"Ilumnia ~ Vermisst"//(26) Kapitel 4: Teil 4
Schlussendlich hatte man das Vorhaben aufgegeben. Die Schriften waren schlichtweg zu wertvoll, um sie unnötig zu zerstören.
Lesen konnte man ebenso gut hier unten.
Wie immer überkam den Counsellor ein beklemmendes Gefühl als er die unterste Etage des Archivs erreichte. Er konnte es nicht genau erklären, aber obwohl er von den hunderten, wenn nicht gar tausenden, alten Büchern beinahe magisch angezogen wurde, fühlte er sich hier unten unbehaglich. Er hatte zwar genug Stunden hier verbracht um die frühere Furcht vor den zahlreichen dunklen Winkeln und der unheimlichen Stille vollends besiegt zu haben, dennoch ging von dem alten Gemäuer eine seltsame Kraft aus.
Es fühlte sich beinahe lebendig an.
Schon oft war es vorgekommen, dass er sich vollkommen auf die alten Schriften konzentriert, versunken in die geheimnisvolle Welt der Bücher, im Gewölbe beinahe verloren hatte.
Sein Zeitgefühl setzte aus und er verspürte weder Hunger noch Müdigkeit. Einmal saß er drei Tage am Stück hier im Keller und las in den Chroniken von Ilumnia, ohne zu merken, wie die Zeit verging.
Als er das Archiv endlich verließ stellte er erschrocken fest, dass er drei komplette Tage und zwei Nächte im Dämmerlicht des Gemäuers zugebracht hatte.
Seit diesem Erlebnis betrat er den Keller nicht mehr, ohne vorher einen Schutzbann um sich zu legen.
Wie fast jedes Mal steuerte er auch heute wieder direkt auf die alte Arbeitsecke ganz am Ende des Kellers zu.
Die Chroniken von Ilumnia lagen noch immer aufgeschlagen auf Seite 1934.
Bis dahin war er bei seinem letzten Besuch gekommen.
Obwohl er beinahe bis auf Seite 2000 vorgedrungen war, hatte er noch nicht einmal die Hälfte des mehr als 6000 Seiten dicken und fast einem Meter breiten Buches gelesen.
Aufgeschlagen nahm es nahezu den kompletten Arbeitstisch ein, obwohl dieser in der Länge ganze zwei Meter maß.
Auch neben dem Tisch stapelten sich teils aufgeschlagene, teils geschlossene Bücher in den verschiedensten Größen.
In jedem davon hatte der Counsellor gehofft, das seltsame Alphabet aus den Chroniken wieder zu finden.
Auf der oberen Hälfte der Chroniken stand eine kleine Kerze in einem altmodischen, schmiedeeisernen Kerzenständer mit kleinem Griff, damit man ihn beim Lesen bequem halten und an die zu beleuchtenden Buchseiten führen konnte.
Sie hatten zwar versucht, auch hier unten moderne Beleuchtungsanlagen und Leselampen zu installieren, doch nicht einmal dies war ihnen gelungen.
Die Technik streikte hier unten, tief unter der Wüstenoberfläche. Der Counsellor ließ sich vorsichtig auf den knarrenden, unbequemen, hölzernen Stuhl sinken.
So manchmal fragte er sich, wie er es früher ausgehalten hatte, stunden- oder sogar tagelang über die Bücher gebeugt hier zu sitzen.
Seine alten Knochen machten solche Dinge mittlerweile nicht mehr mit.
Länger als ein bis zwei Stunden hielt er es nicht aus, danach fühlte er sich steif und verkrampft.
Jedes Mal dauerte es eine gewisse Zeit, bis er sich wieder vernünftig bewegen konnte.
Er griff mit der rechten Hand zum Kerzenständer, fuhr mit einer Bewegung der linken Hand knapp über den Docht der schon bis auf die Hälfte heruntergebrannten Kerze und ließ diese aufflammen.
Sofort warf der orange-rote Schein lange Schatten an die dunklen, fleckigen Steinwände und ließ diese unheimlich auf und ab tanzen.
Der Counsellor hatte sich an dieses Lichtspiel gewöhnt. Er schenkte den Bewegungen an den Wänden keine Beachtung.
Außerdem musste er sich beeilen. Er wollte sich heute nicht allzu lange hier unten aufhalten, denn sein Rücken schmerzte auch ohne das lange Sitzen hier unten schon mehr als genug.
Nein, er würde lediglich eine Weile lesen, um sich abzulenken und dann zurück zu seinem Büro gehen und sich auf die demnächst anstehende Tagung des Rates vorbereiten.