Aus der Reihe - „Lachende Literaten“ – „Christian und Laura, oder Eine höchst wunderbare und traurige Geschichte ohne Ende“ von David Kalisch

in #deutsch6 years ago (edited)

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Lachende Literaten“ und nach all der Schaffenskraft, die ich für euch leiste, muss ich mir eine kurze, erholsame Auszeit gönnen, damit ihr euch in dieser Zeit nicht langweilt, bekommt ihr selbstverständlich, ermunternden Lesestoff geboten.

Heute für euch - David Kalisch „Christian und Laura, oder Eine höchst wunderbare und traurige Geschichte ohne Ende“.

Kritik: ruht – wenn ich ruhe


David Kalisch

Christian und Laura, oder Eine höchst wunderbare und traurige Geschichte ohne Ende


Allen verehrten deutschen Taschenbüchern gewidmet vom Verfasser

Er hieß Christian und war zu Stolpe geboren; sie hieß Laura und erblickte das Licht der Welt in Itzehoe. Christian war ein deutscher Jüngling mit blonden Haaren und blauen Augen, sanft von Herzen, gut von Charakter und Ladendiener in einem Ellenwarengeschäfte. Laura war die Zierde von Itzehoe, schmächtigen Wuchses, blasser Gesichtsfarbe, innig, fromm und sinnig. Sie besaß Eigenschaften, welche selbst die vorzüglichsten Frauen nur selten besitzen. Sie las die Vorreden in den Büchern, wich im Schreiben nie von der geraden Linien ab (hätte sie es später auch im Leben gethan!) und hat nur einmal ein Postscriptum geschrieben. Christian war geduldig wie ein Lamm. Er ließ sich von den Kunden die niedrigsten Gebote thun, wurde es nicht müde, zwanzig Mal in einer Minute die Leiter hinaufzusteigen und ein Stück Baumwollenschnur herab zu holen, begleitete noch obendrein die Käufer und Käuferinnen bis an die Thüre und lächelte immer. Kurz, Christian war ein echt deutsches Naturel, das man um den Finger wickeln konnte, oder wie unsere deutsche Sprache sich trefflich ausdrückt: Man konnte mit ihm machen, was man wollte. Christian war im Ganzen ohne Neigung, d.h. ohne innere Neigung; denn äußerlich hatte er eine nach der rechten Seite und zwar wegen des linken Schulterblattes, das höher emporgestrebt war, als sein Gefährte. Christian nahm also in seinem Leben eine schiefe Stellung ein. Im allgemeinen ging ihm zwar der Sinn für Kunst gänzlich ab; denn ein pommerscher Ladendiener kann ihn nicht sonderlich kultiviren. Aber doch liebte Christian eine Kunst mit allem ihm zu Gebote stehenden Feuer, nämlich die edle Tanzkunst. Der erste Tänzer, dessen Kunst er in seiner frühesten Jugend zu bewundern Gelegenheit hatte, war ein russischer Bär, der wie andere russische Unterthanen unermüdlich nach des Herrn Pfeife tanzte. Einige Jahre später lernte er die braune Tochter des Tänzers kennen, die ihren Vater bei weitem übertraf und die Stolpe'sche Jugend entzückte. Diese Liebe zur Tanzkunst in Christian war um so stärker, als er sie wegen des oben angeführten Umstandes nicht selber ausüben konnte. Schon das Wort »Tanz« machte sein Herz gewaltiger schlagen. Er las eifrig in den Büchern der Geschichte von den berühmtesten Tänzern, hatte eine blinde Verehrung vor dem großen Tänzer Vestris und – jetzt laßt uns zu Laura zurück.

Laura schwelgte im Reich der Töne. Sie selbst war nicht musikalisch, aber sie liebte die Musik, wie viele Menschen die Tugend lieben, ohne selbst im geringsten tugendhaft zu sein. Ihre Eltern schwelgten zwar auch im Reich der Töne, aber auf eine andere Weise. Ihr Vater nämlich, ein Barchentfabrikant, zankte den ganzen Morgen mit seiner Frau und diese den ganzen Nachmittag mit ihrem Manne. Unter diesen ewigen Dissonanzen saß die bleiche Laura an einem Clavier, das im siebenjährigen Kriege bereits seine schwachen Saiten hatte, und phantasirte nach Herzenslust. Sie las eifrig in den Büchern der Geschichte von den berühmtesten Claviervirtuosen, hatte eine blinde Verehrung vor dem Itzehoer Organisten und – jetzt wird die höchst wunderbare und traurige Geschichte bald beginnen.

Niemand entgeht der unbegreiflichen Macht des Schicksals, weder ein länderunterjochender Tyrann noch ein Ladendiener in Stolpe, weder ein liberaler Schriftsteller noch eine kunstbegeisterte Jungfrau in Itzehoe. Die großen Pillen, die uns vom eisernen Schicksal gereicht werden, müssen wir hinunterschlucken oder daran erwürgen. Das unbegreifliche Fatum umspinnt uns mit einem unsichtbaren Netz und wir können wohl darin zappeln, aber nicht daraus fliehen. Daß dies eine Wahrheit, wird der tiefdenkende Leser bald einsehen. Christian, der tanzkunstbegeisterte Christian, las in den deutschen Blättern von der göttlichen Fanny, von ihren Herzens- und Triumphzügen, von ihren Verehrern und Tugenden, von den Dichtern, welche die unsterblichen Leistungen Fanny's besungen und von den Fürsten, welche ihre Kunst durch persische Shawls und indische Perlen belohnt, und man kann sich leicht denken, wie zauberisch dies auf seine Stolpe'sche Phantasie einwirkte. Er wünschte, er hoffte sie zu sehen. Aber, ach! sein Wunsch wurde getäuscht; seine Hoffnung wurde vereitelt. Ueberall zeigte die Göttliche ihre Kunst. In Berlin und München, in Paris und London, in Moskau und Rom entzückte und begeisterte sie die Herzen Aller; nur nach Stolpe kam sie nicht. Das machte den armen Christian so schwermüthig, daß er oft eine halbe Elle zu viel, oft eine ganze Elle zu wenig maß, daß er geköperten Merino gab, wenn man ordinären Flanell forderte und das »Soll« mit dem »Haben« arg verwechselte.

Sein Prinzipal, ein bucklicher Philister, den die Welt einen geraden Mann nannte, weil er keinem armen Teufel etwas borgte, war ob der Schwermuth Christians höchlich erstaunt und betrübt und sein blatternarbiges Gesicht zog sich in bedenkliche Falten. Man fing sogar schon an in Stolpe zu murmeln, daß dem guten Christian der Verstand abhanden gekommen und schrieb es einer unglücklichen Liebschaft zu. Der gute Christian magerte aber indessen so sichtbar ab, daß bald von seinem Gesicht nichts mehr sichtbar war als eine spitze Nase und einige Backenknochen. Sein ganzes Dasein reduzirte sich auf ein Dutzend Rippen und zwei desperate Beine; das übrige an ihm war nicht mehr der Rede werth. Von gräßlicher Verzweiflung erfaßt, stand er schon einige Male im Begriff sich in die Fluthen der Stolpe zu stürzen, als es ihm plötzlich durch's Gehirn fuhr, daß man mit langen Beinen überall fortkommen kann, und so entschloß er sich, da die Göttliche nicht nach Stolpe käme, sie außer Stolpe aufzusuchen.

Eines Abends nun, als der Stolper Himmel voll Sterne hing, schnürte Christian sein melancholisches Bündel, steckte sein gespartes Salair in die Tasche, verließ Stolpe und ging in die Welt.–

Laura, die klavierbegeisterte Laura, las in den deutschen Blättern von dem unsterblichen Lißt, der die Klavierteufelei erfunden, von seinen langen Haaren und Fingern, von dem vielen Unheil und Erstaunen, das er in der Welt angerichtet, von Orden, Säbeln, Doktor- und Hofrathstiteln, die man ihm verehrt und von den Irrenanstalten, die durch seine Kunst bevölkert worden. Sie las von den Herzen, die sich ihm geopfert und von den Sonetten, die man ihm gewidmet. Da entbrannte die Jungfrau von Itzehoe, den großen Mann kennen zu lernen. Sie wünschte, sie hoffte ihn zu sehen. Aber, ach! ihr Wunsch wurde getäuscht; ihre Hoffnung wurde vereitelt. Überall ließ der unsterbliche Lißt sich hören und bewundern. In London und Potsdam, in Paris und Spandau, in Lüneburg und Hamburg, in Petersburg und Frankfurt an der Oder entzückte er die langen Ohren des großen Publikums, – nur nach Itzehoe kam er nicht. Das machte die zartinnige und sanftsinnige Laura so schwermüthig, daß sie den ärgsten Wirrwarr in der Wirthschaft anrichtete. Sie streute Salz in den Kaffee und warf Zucker in die Fleischbrühe. Sie kochte Strümpfe und Halstücher und legte die Kartoffeln und die Kotelets zu der schmutzigen Wäsche. Einmal war sie so sehr zerstreut, daß sie das Bett ankleiden und sich machen wollte und das andere Mal so vergessen, daß sie im Begriff stand, die Lampe auszuziehen und sich anzustecken.

Was ihr Vater, der Barchentfabrikant, und dessen Frau, ihre Mutter, zu dem Zustand der Tochter sagten, ist jedem tiefdenkenden Leser wohl leicht begreiflich. Der Vater schalt die Frau, daß sie der Tochter eine schlechte Erziehung gegeben und sie schalt den Mann und behauptete, die Tochter wäre schwermüthig geworden aus Verdruß über seine rohe Redensarten. Die Stadt Itzehoe murmelte schon ganz hörbar, daß Laura einen Sparren habe, aus Liebe zu einem Apothekergehülfen. Die arme Laura fiel aber unterdessen so sehr vom Fleisch, daß sie in kurzer Zeit aussah wie ein blondes Gerippe in einem Kattunkleidchen. Sie hatte schon jenen Grad von Magerkeit erreicht, der bald zur gänzlichen Unsichtbarkeit führt. Ihr Schatten schämte sich fast ihr Begleiter zu sein, so null und nichtig war ihre physische Existenz geworden. Da beschloß sie endlich, da der unsterbliche Lißt nicht nach Itzehoe käme, ihn aufzusuchen in der weiten Welt.

So gewagt ein solcher Schritt meinen Lesern auch scheinen mag, für ein begeistertes Mädchen hatte er nichts Außerordentliches, und so verließ Laura eines Abends, als der Itzehoer Mondschein im Kalender stand, das elterliche Haus, vergaß in ihrer Zerstreuung aber nicht, sich mit etwelchem Geld zu versehen, welches auf dieser Erde der beste Freund in der Noth ist, und hatte am nächsten Morgen die heimathlichen Fluren schon ziemlich weit im Rücken.

Christian hatte indessen bereits ein gutes Stück Welt gesehen; aber, ach! sein innigster Wunsch war noch nicht erfüllt. Wohl sah er die größten und schönsten Städte, wohl lernte er die größten Künstler und Künstlerinnen kennen; aber sie, die »Göttliche«, sah er nicht. Er hörte Ole Bull, Thalberg, Ernst, Bochsa, Bazzini, die Schwestern Milanollo; aber die Göttliche konnte er nicht finden. Ein höhnisches Geschick schien mit dem armen Christian von Stolpe sein böses Spiel zu treiben; denn wenn er auch noch so zuversichtlich hoffte, er müsse sie in dieser Stadt treffen, so spielte ihm eine unsichtbare Macht einen bösen Streich. Er versäumte entweder die Eisenbahn, oder verschlief sich, oder verstauchte sich den Fuß, oder bekam plötzlich die Grippe, kurz: er kam gewöhnlich immer an, nachdem die Göttliche so eben abgereist war. Damit war aber das höhnische Geschick noch nicht zufrieden. Fast in jeder Stadt, in welcher der arme Christian anlangte, klebten die großen Zettel und verkündeten ein großes Conzert des großen Lißt. Christian wußte in der That nicht, ob ihn eine unsichtbare Macht trieb, dem großen Lißt ewig nachzureisen, oder ob dieser ihn verfolge. Wohin er kam, immer fand er Lißt und wieder Lißt und abermals Lißt; aber die Göttliche, der er schon so lange nachreiste, entwich ihm immer.

Eines Abends saß der arme Christian in einem Gasthof abgesondert von allen übrigen Gästen, den bleichen Kopf auf die Hände gestützt und nachdenkend über sein unglückseliges Los, da öffnete sich die Thüre und hereintrat eine Dame, bleich wie der Berliner Mondschein und traurig wie die Geschichte der Gegenwart. Sie setzte sich dem armen Christian gegenüber und schluchzte. Anfangs bemerkte dieser sein vis-à-vis gar nicht; als er aber die traurige Gestalt der Dame sah, wurde er tiefgerührt. Er knüpfte ein Gespräch mit ihr an und schon nach kurzer Zeit waren sie ziemlich vertraut; denn das Unglück knüpft die Bande der Freundschaft schnell und fest, während das Glück sie gewöhnlich schnell auflöst.

Christian frug die Dame nach der Ursache ihres Trübsinns und sie begann:

»Ich bin einem tückischen Lose zur Beute. Meine Verehrung für den unsterblichen Lißt ist so groß, meine Sehnsucht ihn zu sehen und zu bewundern, so mächtig, daß ich beschloß in die Welt zu gehen und ihn aufzusuchen. Sie können sich denken, welche Aufopferung ein solcher Schritt mich gekostet; aber dennoch that ich ihn, aus Begeisterung für den Mann, der seines Gleichen nicht mehr hat. Aber, ach! so lange ich schon reise, ich habe ihn noch nicht gefunden, ihn, der alles bezaubert, alles in Erstaunen setzt. Wohin ich auch komme, ich komme immer zu spät. In München logirte ich in demselben Zimmer, wo der große Lißt noch eine Stunde zuvor logirte. Ich sah noch mehrere Champagner-Stöpsel und Cigarrenstümpfe auf der Erde liegen, (ich bewahre sie jetzt zum Andenken auf meinem Busen), und höre, daß er gegenwärtig in Augsburg. Schnell setz' ich mich auf den Dampfwagen; jetzt muß ich ihn sehen, denk ich; aber die Lokomotive kriegt einen Schaden, kommt drei Stunden später an als gewöhnlich, und als ich im Gasthofe nach dem unsterblichen Lißt frage, höre ich mit Zerknirschung, daß der Ritter vor einer Stunde nach Ulm abgereist, wo die guten Pfeifenköpfe und Spargel gemacht werden.«

»Ich folge ihm auf der Stelle nach Ulm und als ich dort anlange, höre ich, daß der Ritter Lißt vor kaum einer Stunde nach München zurückgekehrt. Ach, was soll ich Ihnen viel erzählen? mein Jammer ist grenzenlos. Schon glaub' ich, daß ein muthwilliges Geschick seinen Spott mit mir treibe, denn nicht allein, daß ich Den nicht finde, welchen zu sehen mein armes Herz so sehr schmachtet: ach, ich finde fast überall, wohin ich komme, jene Tänzerin, welche man die »Göttliche« nennt. Was hilft aber Brod dem Durstigen? Was hilft das Wasser dem Hungrigen? Statt Lißt immer die Fanny Elßler, o, es ist gräßlich!«

Laura – der scharfsinnige Leser wird wohl schon errathen haben, daß Laura es war, welche so eben gesprochen – Laura schwieg und vergoß Thränen bitterer Wehmuth. Wie es aber dem armen Christian zu Muthe war, kann kein Pinsel malen. Er erzählte ihr sein Schicksal mit Umständen und sie konnte sich von ihrem Erstaunen nicht erholen. Nun beschlossen sie (ein höchst bedeutungsvoller Schritt!) zusammen zu pilgern, da es nur auf diese Weise möglich wäre, ihre gegenseitige Sehnsucht zu befriedigen. Am andern Morgen reisten sie ab. Sie erregten die Aufmerksamkeit aller Leute; denn er sah aus wie der personifizirte Schatten und sie wie das Ideal der Dämmerung. Sie kürzten sich die Reise durch Schilderungen ihres gegenseitigen Vaterlandes. Er rühmte das schöne Pommern und dessen geräucherte Gänse, und sie pries das Herzogthum Holstein und den Itzehoer Pferdemarkt.–

Unter solchen und ähnlichen Gesprächen kamen sie, voll des Trostes für die Zukunft, nach Frankfurt, welches am Main liegt. Als Christian das Frankfurter Journal ergriff, welches in Frankfurt erscheint, las er folgende zerschmetternde Worte:

»Boston, den 15. Juli. So eben ist die berühmte Fanny Elßler angelangt. Sie wird hier zwölf Mal tanzen und dann sämmtliche vereinigte Staaten besuchen.«

Hätte eine Ohnmacht es der Mühe werth gehalten, sich mit Christian zu befassen, sie hätte ihn jetzt gewiß zu Boden geworfen. Der arme Jüngling reichte seiner Unglücksgefährtin das Blatt. Sie las und – beschloß wieder allein zu reisen und ihrem eigenen Schicksal sich hinzugeben. Das Schicksal aber wollte es, daß diese Geschichte kein Ende nehme; denn die arme Laura fand Lißt nicht; der arme Christian fand die Göttliche nicht, und als diese wieder die westliche Hemisphäre verlassen hatte und in Europa angelangt war, fingen wieder die alten Umstände an. Laura traf immer die Tänzerin und nie den Klavierteufel; Christian begegnete immer dem Klavierteufel und verfehlte stets die Tänzerin. So irrte die Jungfrau von Itzehoe; so irrte der Jüngling von Stolpe rastlos in der Welt umher, verfolgt von einem unbegreiflichen Geschick, das seinen bittern Spott mit ihnen treibt. Seit einiger Zeit aber sind beide verschollen. Sollten sie jedoch wieder auftauchen, so wird es der Autor dieser Begebenheit seinen Lesern gewiß mittheilen; vor der Hand geht's aber dieser Geschichte wie der deutschen Gutmüthigkeit, sie hat, wie gesagt, kein Ende.


ENDE


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/schlagschatten-7108/24


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