Medien 023 - Mit falscher Politischer Gesinnung ist man auch ein schlechter Mensch? Oder doch nicht?

in #deutsch5 years ago (edited)

29. November 2018

Vor wenigen Tagen wurde berichtet, dass die Fraktionsvorsitzende der Partei Alternative für Deutschland (AfD), Alice Weidel [1] ihren Zweitwohnsitz in der schweizerischen Stadt Biel/Bienne [2] aufgeben und nach Berlin umziehen wird [3-5]. Die Vermutung, dass ihre Partnerin und die beiden Kinder, die die beiden grossziehen auch dabei sein werden, wurde dementiert.

Weiter wurde berichtet, dass man in der mittelgrossen schweizer Stadt Biel (ca. 55'000 Einwohner) über den Wegzug der promovierten Ökonomin und Politikerin sehr erleichtert sei. Auch wird berichtet, dass die beiden Frauen als Paar sehr gut angekommen seien, bis die politischen Aktivitäten der Frau Weidel bekannt waren. Deswegen habe die blonde Deutsche, die sich teilweise im linksgerichteten Künstler-Milieu zeigte, zunehmend einen schweren Stand gehabt.

2018-11 - Weidel Rede.jpg
Bildschirmaufnahme der jüngsten Rede von Alice Weidel im Deutschen Bundestag [15].

Auf den ersten Blick würde ich mich in diesem Zusammenhang fragen, was mich denn die politischen Aktivitäten einer Bekanntschaft aus Deutschland interessieren, wenn ich in der Schweiz in der gleichen Stadt wohne, gemeinsam in einem Verein aktiv bin oder mich auf kulturellen Veranstaltungen treffe. Spontan komme ich zum Schluss, dass das wohl eine allerhöchstens untergeordnete Rolle spielen würde. Auch wenn jemand schon einmal verurteilt wurde, was bei Frau Weidel nicht der Fall ist, sollte man eine Freundschaft nicht gänzlich ausschliessen, jeder Mensch hat wenigstens gemäss meiner Vorstellung mehrere Chancen im Leben verdient. Wenn ich mit jemandem grundsätzlich gut verstehe, ist mir die politische Ausrichtung der anderen Person vielleicht nicht komplett egal, aber ich habe keine unüberwindbaren Schwierigkeiten damit, weltanschauliche Differenzen zu akzeptieren. In dieser Hinsicht sehe ich mich einmal mehr den klassisch-liberalen Vorstellungen nahestehend.

Bezogen auf persönliche Bekanntschaften schliesse ich eines aus, nämlich dass ich mich von den Medien, Lehrern oder Politikern darin unterrichten lasse, wen ich treffen soll und wen nicht oder ganz allgemein mit wem ich Gespräche zu führen habe. Speziell dann, wenn sich die Ansichten und die dahinterstehenden Beweggründe unterscheiden, kann man gemäss meiner einschlägigen Erfahrung besonders interessante Gespräche führen. Das funktioniert, sofern man darum bemüht ist, jedem Teilnehmer eigene Gedankengänge und deren Darlegung sowie die Erwähnung seiner Literaturpräferenzen zuzugestehen.

Im Rahmen des Modells der Politik der ersten Person [6] ist das allerdings nicht möglich. Nach diesem Modell, welches vornehmlich im Zuge der zweiten Frauenbewegung [7] aufkam, sind zwei Dinge klar. Erstens, dass es eine Privatsphäre für politische Ansichten nicht gibt. Zweitens, dass man daher eigentlich nicht eine Freundschaft unterhalten kann, wenn auf der politischen Ebene nur ein ganz kleiner gemeinsamer Nenner existiert. Wie dem Artikeln über Frau Weidels Umzug zu entnehmen ist, scheint es im genannten Milieu der Stadt Biel also normal zu sein, sich bezüglich der Tauglichkeit der persönlichen Bekanntschaften auf die Medien zu verlassen und die Politik der ersten Person zu beherzigen.

Ob das tatsächlich so ist, kann ich nicht sagen, dafür kenne ich die Stadt, die am Nordufer des Bielersees und am Jurasüdfuss gelegen ist, zu wenig. Wirtschaftlich ist die Stadt für die Uhrenindustrie und Maschinenbau bekannt. 40 Jahre lang liess General Motors in Biel Fahrzeuge der Marke Opel montieren, dies ist aber seit 1975 Geschichte. Die Bevölkerung in der einzigen offiziell zweisprachigen Schweizer Stadt ist sehr vielfältig, der Anteil Ausländer liegt bei etwa 30 %, was in der Schweiz nicht völlig unüblich ist.

Zurück zum Prinzip der Politik der ersten Person. Dieses Prinzip scheinen sich gemäss meinem Eindruck heute viele Journalisten und Politiker zueigen gemacht zu haben. Neben vielen Schablonen und Vorurteilen, mit denen sie Menschen kategorisieren und zu Freunden und Feinden erklären und sehr rasch dabei sind, jemanden auf guten oder abwegigen Pfaden unterwegs zu sehen. Damit verbunden scheint auch ein nahezu kindliches Schema guter Mensch - schlechter Mensch zu gehören. Anders kann ich mir nicht erklären, dass gerade im Leben der Frau Weidel, die ich weder zu einer Heldin verklären will noch zu einem hilflosen Opfer, nahezu krampfhaft nach Widersprüchen gesucht wurde, mit dem Ergebnis, dass die Journalisten selber in zunehmendem Masse nicht mehr aus der Sache schlau wurden [8-11]. Ihr Lebenswandel war augenscheinlich kontrovers genug, dass offenbar viele Journalisten bei der Frage, wie sich diese mindestens in Teilen unerwünschte Vielfalt gleichzeitig in einem einzelnen menschlichen Wesen wiederfinden kann, ernsthaft ins Grübeln kamen.

Wenigstens an der Art, wie über den Zweitwohnsitz von Alice Weidel berichtet und kommentiert wurde, konnte man erkennen, dass sich auch bei Journalisten, Politikern und Bürgern des etablierten Spektrums nationalistisches Gedankengut erhalten hat. Denn gar nicht unter diesen, die sich sonst gerne als aufgeklärte Weltbürger mit Nationalität Mensch oder wenigstens als überzeugte Europäer zu erkennen geben, nahmen rasch eine ablehnende Haltung ein, als bekannt wurde, dass ein Mitglied einer ungeliebten Partei einen Teil des Lebens ausserhalb des Landes und sogar ausserhalb der Europäischen Union verbringt. Damit verbunden war selbstverständlich auch die Frage, wo denn die Steuern entrichtet werden. Sobald es also fraglich ist, ob ein Cent Steuern nicht im eigenen Land bezahlt wurde, erheben sich die Arme und die Finger strecken sich, um auf die teilzeitabtrünnige Person zeigen zu können.


Es ist auch durchaus interessant, zu sehen, wie beispielsweise deutsche Grossmachtsphantasien ganz unterschiedlich bewertet werden, abhängig von der Person, die sie ausspricht. Wenn sich ein Mitglied der AfD erdreistet, eine nicht genehme Bemerkung über Deutschlands Geschichte und den Umgang damit zu machen, steht in der Regel gleich ein Heer an Menschen bereit, das sich moralisch befähigt fühlt, entschieden zu widersprechen, die Aussagen willkürlich zu verdrehen und eigenmächtig auszulegen, um der imaginierten Ursache aller deutschen Schwierigkeiten die rote Karte zu zeigen. Dass sich eine stattliche Zahl an Vertretern dieser Partei schon zu fragwürdigen Aussagen hat hinreissen lassen, teilweise wohl aus Dummheit, stelle ich keineswegs in Abrede und merke gerade, dass ich speziell den Zirkel um Herrn Höcke für wenig überlegte Aktionen noch viel zu wenig kritisiert habe.

In einem anderen Fall blieben stattdessen, warum auch immer, nahezu alle sonst so raschen Kritiker stumm. Denn, die aktuelle Generalsekretärin der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer [12], aussichtsreiche baldige Parteivorsitzende hat aktuell bei Twitter folgendes [13] geäussert:

Wir haben eine Verantwortung! Die Menschen verlassen sich darauf, dass wir unser Land stark machen. Wenn unser Wertesystem Standard überall in der Welt sein soll, geht das nur mit starkem #Deutschland und starkem #Europa. Das ist die Verantwortung, die über die #CDU hinaus reicht.

Problematisch an solchen Äusserungen ist einiges. Explizit von einer einzelnen Verantwortung zu sprechen halte ich schon für seltsam. Es ist klar, dass jeder, der Freiheiten geniesst, diese verantwortungsvoll einsetzen soll um sich ihrer würdig zu erweisen. Wer eine leitende Funktion innehat, übernimmt automatisch mehr Verantwortung für zukunftsweisende Entscheidungen und den Fortbestand der Organisation. Die Vorstellung, unser Wertesystem zu einem weltumspannenden Standard machen zu wollen, wirkt auf mich leicht verklausuliert wie eine Neuinterpretation deutschen Grössenwahns, den man am nettesten mit "am deutschen Wesen soll die Welt genesen" beschreiben kann. Immerhin sagt sie nicht, wie sie dieses "Wertesystem" zum "Exportschlager" machen möchte und welche Länder ihr besonders am Herzen liegen. Es ist auch nicht ganz klar, was denn genau das Zeug zum Exportschlager hat, denn nur schon in der EU hat Deutschland lebendige Konkurrenz und dürfte in kaum einer Kategorie weltweit Spitzenreiter sein. Es wäre wohl besser gewesen, zu sagen, man wolle selbst in vielen positiven Disziplinen wieder zur Referenzklasse gehören.


Sehr gefallen hat mir zum gleichen Themengebiet auch ein Interview mit dem Historiker Andreas Rödder [14]. Dieser hat sehr erhellend geschildert, warum der politische Diskurs in Deutschland trotz proklamierter EU-Orientierung stark selbstbezogen geblieben ist. Dazu hat er auch ganz einfach gezeigt, wer sich aktuell warum vor Deutschland fürchtet und warum es die Deutschen selbst auch tun.

Das Problem der Etablierten in Deutschland sehe ich darin, dass sie auch gemessen an der Realität in Europa beim Versuch, ihre politischen Sonderwege zu "erklären", in Sphären abgedriftet sind, die nur noch für wenige Aussenstehende verständlich sind. Für die eigenen Leute, die sie mithilfe der Medien in die selbe Sphäre entrückt haben, müssen sie diesen Zustand aufrechterhalten, entfernen sich aber beständig von alledem, was bei nüchterner Betrachtung vernünftig ist.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Weidel
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Biel/Bienne
[3] Umzugspläne von Alice Weidel - "Eine gute Nachricht für Biel". Süddeutsche Zeitung, 23. November 2018, von Charlotte Theile https://www.sueddeutsche.de/politik/weidel-wohnort-deutschland-schweiz-1.4222343
[4] Schweiz - Alice Weidel hat genug von Biel. Berner Zeitung, 23. November 2018, von Charlotte Theile https://www.bernerzeitung.ch/articles/26153728
[5] Schweiz - Alice Weidel hat genug von Biel. Bieler Tagblatt, 23. November 2018, von Charlotte Theile https://www.bielertagblatt.ch/nachrichten/biel/alice-weidel-hat-genug-von-biel
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Politik_der_ersten_Person
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenbewegung
[8] Alice Weidel: Himmel, Lille! Zeit online, 13. September 2017, von Marc Brost, Sarah Jäggi und Mariam Lau https://www.zeit.de/2017/38/alice-weidel-afd-spitzenkandidatin-muslime/komplettansicht
[9] Alice Weidel - Über Kindlichkeit. Zeit online, 17. Oktober 2018, von Antonia Baum https://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/43/alice-weidel-afd-politikerin-homosexualitaet-gesellschaftskritik
[10] Überlingen - Privatleben von AfD-Politikerin im Fokus: Die zwei Leben der Alice Weidel. Südkurier, 04. Mai 2017, von Margit Hufnagel https://www.suedkurier.de/ueberregional/politik/Privatleben-von-AfD-Politikerin-im-Fokus-Die-zwei-Leben-der-Alice-Weidel;art410924,9241412
[11] Experte analysiert Wahl - Lesbische Spitzenkandidatin: Alice Weidel als „kluger Schachzug“ der AfD? Merkur.de, 19. September 2017, von Florian Naumann
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Annegret_Kramp-Karrenbauer
[13] Annegret Kramp-Karrenbauer bei Twitter: https://twitter.com/A_K_K/status/1067482731255341056
[14] Interview - Der Historiker Andreas Rödder: «Alle haben Angst vor Deutschland, einschliesslich der Deutschen selbst». NZZ, 28. November 2018, von Claudia Schwartz https://www.nzz.ch/feuilleton/andreas-roedder-angst-vor-deutschland-ld.1439649
[15] Alice Weidel AFD : Dazugelernt hat Ihre Regierung nichts, Frau Bundeskanzlerin! Info Kanal YouTube, 29. November 2018

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