Persönlichkeitsentwicklung 042 - Zum Thema Mobbing - Israel Kalman in The Federalist

in #deutsch5 years ago (edited)

10. Februar 2019

Einleitung

Dieser Tage sorgte in Sachen Mobbing vor allem der Suizid eines erst elf Jahre alten Mädchens in Berlin für Aufmerksamkeit [1, 2]. Es warf einen Schatten auf die Schulen, die, so wie sie aufgebaut sind, seit langem eine ziemlich gut geeignete Plattform zur Inszenierung für heranwachsende Kollektivisten, Ausgrenzer und Mobbingbetreibende darstellen. Diese These möchte ich hier einfach stehenlassen und noch auf einen Artikel von Frühjahr 2018 verweisen, der in der Frauenzeitschrift Emma erschienen ist [3].

Dieser Beitrag soll nun die Übersetzung eines Artikels enthalten, der vor kurzem bei The Federalist [4] erschienen ist. Unter dem Titel Education - Why Most School Anti-Bullying Programs Make Bullying Worse - zu Deutsch Bildung - Warum die meisten Anti-Mobbing-Programme der Schule Mobbing schlimmer machen hat der Schulpsychologe Israel Kalman seine Sicht dargelegt.


Bildung
Warum die meisten Anti-Mobbing-Programme
der Schule Mobbing schlimmer machen

Die Psychologie erkennt, dass Menschen nicht dann am gefährlichsten sind, wenn sie sich wie Tyrannen fühlen, sondern wenn sie sich wie Opfer fühlen. Die heutigen Anti-Mobbing-Programme bringen jeden dazu, Kränkungen (und die damit verbundenen Empfindungen - Anm.) zu verstärken.

Von Israel Kalman, 21. Januar 2019. Erschienen bei The Federalist.

Es kommt eine Zeit, in der eine Nation in Frage stellen muss, welche Weisheit dahinter steht, einen verlorenen Krieg fortzusetzen. Es dauerte 18 Jahre, bis die Vereinigten Staaten den Krieg in Vietnam aufgaben. Es dauerte 13 Jahre, bis der Krieg gegen den Alkohol beendet war. Nach einem wesentlich längeren Zeitraum beenden wir gerade den Krieg gegen Marihuana.

Jetzt ist es an der Zeit, sich aus einem weiteren, fruchtlosen Krieg zurückzuziehen: Aus dem Krieg gegen Mobbing. Nicht dass Mobbing in Ordnung wäre. Aber die Art und Weise, wie wir kämpfen, hat uns alle - Eltern, Lehrer, Kinder, Psychologen - in einen zunehmend teuren und blutigen Sumpf gestürzt.

Die gängige Weisheit über Mobbing ist, dass die Gesellschaft nicht genug tut, um es zu stoppen. Wenn wir nur das Bewusstsein für Mobbing schärfen und unsere Anti-Mobbing-Politik intensivieren, wird Mobbing endlich verschwinden.

Aber das Bewusstsein für Mobbing hängt uns aus den Ohren. Das wahre Problem ist, dass der orthodoxe Ansatz zur Bekämpfung des Mobbings ein Catch-22 Dilemma [6] ist: Je härter/entschlossener wir es umsetzen, desto schlimmer wird das Problem mit dem Mobbing. Was benötigt wird, ist ein grundlegend anderes Paradigma, ein wirklich effektiver Ansatz würde weniger Aufwand erfordern und bessere Ergebnisse erzielen.

Ein solcher Ansatz existiert. Die Welt hat ihn sich noch nicht zu eigen gemacht, weil die Forscher es für selbstverständlich halten, dass der aktuelle Ansatz richtig ist. Nur widerwillig führen sie Studien über grundlegend unterschiedliche Ansätze durch und halten diese für gefährlich.

Woher die heutigen ineffizienten Mobbing-Programme stammen

Der aktuelle Ansatz ist am besten als Gesetzesvollzugs-Ansatz zu charakterisieren, der jedes negative Verhalten als ein Verbrechen behandelt, das nicht toleriert werden darf. Er betrachtet das gesellschaftliche Leben als eine Mischung aus bösen Tyrannen, die die alleinige Verantwortung tragen, unschuldigen Opfern, die keine Verantwortung tragen, und Zuschauern, die aktiv oder passiv Mobbing ermöglichen.

Indem man Bildungseinrichtungen rechtlich für das Mobbing unter den Schülern verantwortlich macht, drängt man sie, sich in totalitäre Polizeisysteme zu verwandeln, die alle Interaktionen der Kinder überwachen und aufzeichnen und ihnen die Freiheit nehmen, etwas zu sagen oder zu tun, womit sie gegenseitig stören kann. Es verwandelt Erzieher, Schulpsychologen, Berater und Sozialarbeiter in Sicherheitskräfte, Detektive, Richter und Disziplinierer.

Dieser Ansatz wurde vom norwegischen Psychologen Prof. Dan Olweus (geboren 1941) [7] in den 1970er Jahren entwickelt, als Reaktion auf eine Reihe von Selbstmorden, die gemobbte Jugendliche verübten. Das Olweus Bullying Prevention Program (OBPP - Olweus Mobbing-Präventions-Programm) ist zum weltweit am weitesten verbreiteten Programm geworden und gilt als "der Goldstandard".

Alle Wissenschafter, die sich später für Mobbing interessierten, fanden seine Arbeit, verbreiteten seine Lehren als eine Art Evangelium und stützten ihre eigenen Programme auf seine. Darüber hinaus haben sie sich erfolgreich für Gesetze eingesetzt, die von den Schulen verlangen, dass sie Olweus' Ansatz gegen Mobbing umsetzen. So ist das gesamte Feld des Mobbing eine umgekehrte Pyramide, die auf den Ideen eines Einzelnen basiert.

Aber es funktioniert nicht sehr gut.

Das Problem ist, dass das Paradigma des Gesetzesvollzugs nicht sehr gut funktioniert. Die umfangreichste Studie über OBPP, die vor einigen Jahren in Pennsylvania durchgeführt wurde, ergab nur eine Verringerung um 12 Prozent der Zahl der Kinder, die sich darüber beschweren, zweimal oder öfter pro Monat in den Schulen gemobbt zu werden, die das Programm zwei Jahre lang ordnungsgemäss umgesetzt haben. Das ergibt eine Misserfolgsquote von 88 Prozent!

Jede Meta-Analyse der Forschung zu Anti-Mobbing-Programmen und -Gesetzen hat ergeben, dass sie selten mehr als eine geringfügige Reduzierung des Mobbing hervorbringt und oft zu einem Anstieg führt. Seltsamerweise empfehlen Mobbing-Forscher niemals, dass wir diese ineffizienten Programme und Richtlinien aufgeben, sondern nur dass sie intensiviert werden sollen.

Das Paradigma des Gesetzesvollzugs scheitert, weil es längst etablierte Prinzipien der Psychologie und Philosophie aufgibt und durch das ersetzt, was die kognitive Verhaltenspsychologie als irrationale Überzeugungen (beliefs - also Überzeugungen aus einem Glauben heraus - Anm.) erkennt. Wir müssen erkennen, dass die grosse Mehrheit der Mobbingfälle verbal und relational ist: Beleidigungen, Gerüchte, Gesten, soziale Ausgrenzung und böse Nachrichten im Cyberspace. Obwohl diese Handlungen negativ sind, sind sie unvermeidliche Merkmale des gesellschaftlichen Lebens.

Sogar Erwachsene beteiligen sich regelmässig daran. Aber die Anti-Mobbing-Ausbildung lehrt die Kinder, dass sie einen Anspruch auf ein Leben ohne Mobbing haben, dass Worte sie für immer verstümmeln können, dass sie zu schwach sind, um mit Mobbing allein umzugehen und dass jeder - Lehrer, Eltern, Polizei, ihre Kommilitonen - sie beschützen muss. Sie lehrt auch, dass sie die Schulbehörden informieren müssen, wenn sie Mobbing erleben oder miterleben, denn diese Autoritäten können das Mobbing aufhören lassen.

Diese irrationalen Überzeugungen fördern Verletzlichkeit, Hilflosigkeit und eine Opfermentalität. Nachdem sie mit dem Glauben indoktriniert wurden, dass Worte noch zerstörerischer sein sollen als Stöcke und Steine, werden die Menschen leichter durch Beleidigungen verärgert, was zu weiterem Mobbing ermutigt und sie in einem endlosen Kreislauf gefangen hält.

Schlimmer noch, wenn sie die Schulbehörden einbeziehen, eskalieren die Feindseligkeiten sofort, da jede Seite leidenschaftlich argumentiert, dass sie unschuldig ist und die andere Seite schuldig. Informanten verdienen sich in der Regel den Ruf einer Petze oder eines Verräters, ein gesellschaftliches Todesurteil. Wenn Mobbing zu schwerer körperlicher Gewalt eskaliert, ist es fast immer so, dass es erst dann dazu kommt, nachdem die Schule sich mit der Durchsetzung von Anti-Mobbing-Richtlinien beschäftigt hat.

Wir müssen es nicht so machen

Es gibt eine höherwertige Art, mit Mobbing umzugehen. Es ist ein psychologisch-erzieherisches Paradigma. Es basiert auf dem Verständnis, dass Menschen weder göttliche Engel noch Computer sind, die dazu programmiert werden können, nur Gutes zu tun. Wir sind Tiere und besitzen eine grundlegende Natur, die nicht immer nett ist und nicht durch gesetzliche Verordnung beseitigt werden kann. Um Probleme zu lösen, müssen wir im Einklang mit den Gesetzen der Natur arbeiten, nicht indem wir sie ignorieren.

«Es ist bemerkenswert einfach, nicht mehr
belästigt zu werden, wenn man weiss, wie.»

Die Psychologie erkennt, dass Menschen nicht dann am gefährlichsten sind, wenn sie sich wie Tyrannen fühlen, sondern wenn sie sich wie Opfer fühlen. Es bestätigt die alte Weisheit, dass Menschen scheinheilige Heuchler sind, die in der Lage sind, den Splitter in den Augen anderer zu sehen, ohne den Balken in den eigenen zu sehen. Deshalb ist die Anti-Mobbing-Bewegung so beliebt - jeder denkt, dass der die andere Person der Tyrann ist.

Der psychologisch-erzieherische Ansatz besteht darin, den Kindern die Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen beizubringen und wie sie die Feindseligkeiten selbst entschärfen können. Es ist bemerkenswert einfach, nicht mehr belästigt zu werden, wenn man weiss, wie. Es ist viel einfacher als das Erlernen der 3 R's (Reading, Writing, Arithmetic - Lesen, Schreiben, Rechnen) [8], was Monate oder Jahre des Unterrichts erfordert. Ein gut ausgebildeter Berater, ein paar kurze Unterrichtsstunden und eine Politik der rationalen Schuldisziplin sind alles, was nötig ist, um Mobbing drastisch zu reduzieren.

Kurz gesagt, der Grund, warum Kinder Opfer von Mobbing werden - das heisst, unerbittlich von einem oder mehreren anderen Kindern herausgegriffen werden - ist, dass sie sich aufregen, wenn sie aufgegriffen werden. Jedes Opfer von Mobbing regt sich auf. Dabei wird niemand, der sich nicht aufregt unerbittlich angegriffen.

Die Aufgabe besteht also darin, Kindern beizubringen, wie man mit Feindseligkeit umgeht, ohne sich aufzuregen. Es gibt wirklich nur drei Grundprinzipien, die Kinder lernen müssen, damit ihre Viktimisierung aufhört:

  1. Der Weg, Mobbing zu besiegen, ist, ruhig zu bleiben.
  2. Wenn wir uns aufregen, verärgern wir uns selbst.
  3. Es ist viel einfacher, sich nicht zu ärgern, wenn man erkannt, dass man die Sache unter der eigenen Kontrolle hat.

Verwandeln Sie Negativität in Positivität

Eine umfassendere Anleitung vermittelt, dass die Goldene Regel ein mächtiges Werkzeug für unser EIGENES Wohlergehen ist, um unsere Tyrannen aktiv zu besiegen und Negatives in Positives zu verwandeln. Das ist nicht unverbesserlicher Optimismus (Pollyanna). Es ist Psychologie in Aktion.

«Wenn wir Kinder wirklich vor Mobbing
schützen wollen, müssen wir ihnen beibringen,
wie sie nicht zu Opfern werden.»

Sagen wir zum Beispiel, ein Kind wird "Idiot" genannt. Die Antwort könnte lauten: "Nun, ich denke zufällig, dass du klug bist." Wenn ein Kind "Fettsack" genannt wird, kann es antworten: "Es ist so toll, dass du schlank bist." Wenn man mit einem bösen Gerücht konfrontiert wird, anstatt sich selbst zu verteidigen, ist eine effektivere Antwort: "Glaubst du daran?" Wenn der Gerüchteverbreiter sagt: "Ja," ist die passende Antwort, "Du kannst es glauben, wenn du willst." Wenn als Antwort gesagt wird: "Nein", ist die Antwort: "Gut."

So oder so, das Ziel gewinnt. Körperliche Aggression ist potenziell gefährlicher und kann eine Intervention von Erwachsenen erfordern, obwohl Kinder sie je nach Situation oft alleine entschärfen können.

Das Leben ist vollgepackt mit gesellschaftlichen Herausforderungen, einschliesslich Mobbing. Kinder verdienen es, dass man ihnen beibringt, wie man mit ihnen umgeht. Wenn sie nicht mehr von allen anderen verlangen, sie zu beschützen und ihre gesellschaftlichen Probleme für sie zu lösen, wachsen sie in ihrem Selbstvertrauen, ihrer Widerstandsfähigkeit - und Beliebtheit.

Der Krieg gegen Mobbing ist ein Widerspruch in sich. Wenn wir Kinder wirklich vor Mobbing schützen wollen, müssen wir ihnen beibringen, wie man nicht Opfer wird. Das ist ein Krieg, den sie gewinnen können.

Das Autorenprofil von Israel Kalman bei The Federalist [5]

Israel Kalman Israel "Izzy" Kalman, MS, ist ein staatlich geprüfter Schulpsychologe und ein führender Verfechter der Psycho-Erziehung. Er ist Gründer und Direktor von Bullies to Buddies, Inc. (deutsch vom Rüpel zum Kumpel) Hauptautor des Be Strong Resilience Program (deutsch Sei stark Widerstandsfähigkeitsprogramm), Autor des bei Psychology Today erscheinenden Blogs Resilience to Bullying (deutsch Widerstandsfähigkeit gegen Mobbing) [9], der weltweit grössten Informationsquelle über die Probleme mit der Anti-Mobbing-Bewegung und was stattdessen getan werden muss.


Schlusswort

Selbstverständlich geht es in dem kurzen Artikel eher nicht um völlig aus dem Ruder gelaufene Fälle wie den eingangs erwähnten [1, 2], der mit einem Suizid endete. Aber jeder Fall von Mobbing beginnt auf einer tiefen Eskalationsstufe. Wenn Kinder von klein auf gelehrt werden, wie sie es selbst hinbekommen, die meisten der Fälle von Mobbing auf niedrigen Eskalationsstufen selbständig zu lösen, stehen für die wirklich schwierigen Fälle, die es zweifelsohne auch gibt, auch die nötigen Ressourcen zur Verfügung.

Israel Kalman hielt im Rahmen einer TEDx Talks Veranstaltung einen Vortrag [10], den ich hier gerne teile. Der Titel lautete: How to Win the War Against Bullying - Wie man den Krieg gegen Mobbing gewinnt


[1] Suizid in Berlin - Was über den Tod des elfjährigen Mädchens bekannt ist. Tagesspiegel, 04. Februar 2019, von Werner van Bebber und Stephan Haselberger https://www.tagesspiegel.de/berlin/suizid-in-berlin-was-ueber-den-tod-des-elfjaehrigen-maedchens-bekannt-ist/23943858.html
[2] Nach Mobbing einer Schülerin - Berliner Grundschule will Probleme lösen. Tagesspiegel, 06. Februar 2019, von Sandra Dassler https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-mobbing-einer-schuelerin-berliner-grundschule-will-probleme-loesen/23952970.html
[3] Was ist an den Schulen los? Emma, 05. April 2018, von Andrea F. https://www.emma.de/artikel/andrea-f-radikalisierung-334795
[4] Education - Why Most School Anti-Bullying Programs Make Bullying Worse. The Federalist, 21. Januar 2019, von Israel Kalman https://thefederalist.com/2019/01/21/school-anti-bullying-programs-make-bullying-worse/
[5] Autorenprofil von Israel Kalman bei The Federalist: https://thefederalist.com/author/israelkalman/
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Catch-22_Dilemma
https://en.wikipedia.org/wiki/Catch-22_logic
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Dan_Olweus
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/The_three_Rs
[9] Resilience to Bullying. Artikel von Israel Kalman. https://www.psychologytoday.com/intl/blog/resilience-bullying
[10] How to Win the War Against Bullying | Israel "Izzy" Kalman | TEDxBucharest. TEDx Talks, 01. Mai 2018


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hier noch das emotionale Video von Anti Mobbing Berate Carsten Stahl (Berlin)

Danke für den Kommentar und das Anfügen dieses Videos!
Es passt sehr gut zum Thema.

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