Die Freie Gesellschaft Teil 3

in #deutsch6 years ago

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Bildquelle: schon wieder meine Leseecke, ich glaube sie wird es auch noch lange bleiben

In meiner heutigen Leseprobe geht es um den Abschnitt A5

Im letzten Beitrag https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/die-freie-gesellschaft-teil-2 wurde folgende Formulierung zum Naturrecht vorgestellt.

Alle haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung

Wenn man von Recht spricht, kommt man um die Rechtsgestaltung und um die Juristerei nicht rum.

Es ist zuerst die derzeitige Ausgangslage zu betrachten und die Prüfung darauf anzupassen. Ein Bereich an welchem ich persönlich sehr viel mitarbeiten und mitstreiten durfte und konnte.

Das Naturrecht im deutschen „Grundgesetz“

In den Abschnitten A 1 bis A 4 wurde das Naturrecht erarbeitet und zwar in der Form, in der es als Axiom für alle sog. „Menschenrechte“ dienen kann. Die können aus dem Axiom per Syllogismus abgeleitet werden und sind insofern Naturrechtsderivate. Dieser Umstand erspart uns viele Einzeluntersuchungen zu den „Menschenrechten“.

Bevor wir uns den drei Fragen zuwenden, die die Darstellung der Untersuchungsergebnisse in den späteren Abschnitten leiten (s. Abschnitt A 6), gilt es, darauf aufmerksam zu machen, dass das Wesen des Naturrechts nicht nur missverstanden, sondern auch verholzt werden kann. Das geschieht durch Versäumnisse bei der Systematik und Logik seiner Darstellung und durch mangelnde Kenntnis einschlägiger Begründungszusammenhänge. Ein Beispiel dafür ist das deutsche „Grundgesetz“.

Das „Grundgesetz“ (in Gesetzestexten üblicher Weise - und so auch im Folgenden - abgekürzt GG). ist das Organisationsschema des deutschen Staates. Ich hatte es bereits in meiner Schrift „Eine missratene Beziehung - Der Bürger im Staate“ (2007, 2015) thematisiert und Teile davon kritisch analysiert. Deshalb gibt es zwischen den Inhalten jener Schrift und den Inhalten, die ich gleich darstellen werde, Überschneidungen. Viel Wichtiges musste jedoch neu hinzugefügt bzw. analytisch vertieft werden. Anderes musste akzentuiert oder konnte korrigiert werden.
Das GG beginnt mit den Sätzen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Dieser Satz steht in der Tradition der europäischen Aufklärung und erhält von daher seinen guten Sinn. Nun wissen wir aber seit Friedrich Schiller, dass die Würde eine Eigenschaft nur weniger Menschen ist. Denn sie ist Ausdruck einer erhabenen Gesinnung, von der nicht Jeder sagen kann, dass er sie hat. Deshalb ist zu fragen: Sollen gemäß GG nur die Würdigen geachtet und geschützt werden? Hätte es nicht schlichter und der Sache angemessener heißen sollen: „das freiheitsbegabte Individuum ist zu achten und zu schützen“, von wem auch immer. Wenn nur die Würdigen geachtet und geschützt werden sollen, wer achtet und schützt dann mich?

Der oben entwickelte Naturrechtsgrundsatz - sein Inhalt erscheint etwas verworren in den Artikel 2/1 Satz 1 (Allgemeinheit und Freiheit) und Artikel 3/1 GG (Gleichheit) - gilt natürlich schon vor und unabhängig von Staatsgesellschaften. Denn er formuliert ein in der Natur begründetes Recht. Man könnte den Staatsverfassungen eine Zweckbestimmung geben, die auf diesem einen Grundsatz basiert. So ließe sich mit einer knapp formulierten Aussage ein Verfassungstext erheblich komprimieren und vernünftig einleiten. Wie verfährt dagegen das GG in seinen Artikeln 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 12a, 13, 14, 16a, 16a, 17, 103 und 104?

Genau wie die Völkerrechtler (die Schöpfer der MenschenrechtsCharta) ernennen die deutschen Verfassungsschöpfer Derivate des Naturrechts (bloß abgeleitete Rechte) zu „Grundrechten“. Der Naturrechtsgrundsatz wird durch die in ihm als Derivate enthaltenen „Grundrechte“ ersetzt. Das Aufzählen derivativer „Grundrechte“, Rechte also, die selbst der Schwachsinn aus dem Naturrechtsgrundsatz herzuleiten vermag (s. Abschnitt A 4), wäre eigentlich nicht nötig und hat schon etwas Klippschulenhaftes. Auf derlei Verkündigung kann die Menschheit verzichten.
Selbst wenn man sich mit der Auffassung des renommierten Rechtsprofessors Josef Esser, jede programmatische Aufzählung sogenannter Grund- und Menschenrechte sei eine „Sache für Demagogen“, nicht identifiziert, stimmt doch bedenklich, mit welchem Fleiß Menschenrechts- und Grundrechtsschöpfer sich an diese Tätigkeit heranmachen.
Eine Staatsverfassung, die über Druckseiten hinweg bloße Rechtsderivate auflistet, outet sich nicht gerade als das intelligenteste Machwerk menschlicher Kreativität. Was könnte ein gesellschaftspolitisches Organisationsschema für eine übersichtliche Sache sein, wenn in ihr so viel Text eingespart werden könnte wie bei den Grundrechten des deutschen „Grundgesetzes“!
Außerdem: Wir Menschen nutzen noch wesentlich mehr und ganz andersartige Naturrechte als diejenigen, die in der Menschenrechts-Charta oder im GG stehen. Wir nehmen uns die Rechte einfach, ohne je uns die Erlaubnis aus der Charta oder dem GG zu holen. Und keiner sollte uns daran hindern. Für die nicht in der Charta oder im GG explizierten Rechte, die sich aber subsumtiv aus dem Naturrechtsgrundsatz ableiten lassen, können wir im Ernstfall nicht die gleiche Legitimität beanspruchen, wie für die wenigen dort aufgelisteten. Und das bewirkt in vielen Fällen eine Einschränkung individueller Freiheit.

Die Rechtsbeschränkungen, die die Charta und auch das GG mit der Formulierung dessen bewirken, was Rechtsbasis der Menschheit genannt wird, sind offensichtlich historisch bedingt. Weil die „Grundrechte“ nicht konsequent auf den drei Naturrechtsprinzipien errichtet und klar formuliert worden sind, wurde der Menschenrechtsteil des GG kaum richtig verstanden, wie übrigens auch die Menschenrechts-Charta selbst. Beide mussten daher über kurz oder lang zu einer schwachbrüstigen Heilsbotschaft verkommen.
Weil das GG im Artikel 2/1 die freie Lebensentfaltung durch die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ ersetzt, muss in Artikel 2/1 ein „Recht auf Leben“ noch einmal gesondert formuliert werden. Wenn wir in Artikel 2/2 Satz 2 lesen: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ soll das wohl heißen, dass die Unverletzlichkeit der Menschenrechte (Art. 1/2, Satz 1) diese Freiheit noch nicht berücksichtigt hatte.
„In diese Rechte [Grundrechte] darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden“, heißt es, wo es doch „muss“ heißen sollte. Denn jeder kann das Naturrecht für sich in Anspruch nehmen, woraus automatisch Konflikte erwachsen (s. Abschnitt A 4). Diese Konflikte können nur durch gesetzte Handlungsnormen („Gesetze“), neutralisiert werden (s. Abschnitte B 2.2, B 2.3 ff und B 2.4 ff). Deshalb das „Muss“.

Wieweit weg „Grundrechte“' vom gleichen Recht auf freie Lebensentfaltung für alle sein können, sei am Beispiel des Gleichheitsprinzips gezeigt. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es zwar in Artikel 3/1. Jedoch nicht nach den Vorstellungen anderer Artikel des GG. Der sich aus kaiserlicher Bedienstetentradition herleitenden Klasse des „hoheitlichen Gewerbes“ (Ulrich Lohmar, 1978), durch die schlimme Zeit des dritten Reiches ein wenig düpiert, wenn auch nicht entrechtet, wurden 1949 in der Neufassung der deutschen Verfassung ihre Privilegien in Art. 33/5 GG aufs Neue festgeschrieben. Nun ist klar, warum (zum Schein?) das Gleichheitsprinzip - in Artikel 3/1 GG bereits explizit formuliert - in Artikel 33/1 bis 33/3 GG noch einmal feste beschworen werden muss.

Die deutsche Verfassung begründet zweifellos Privilegien, via Artikel 33/5 GG indirekt auch das Unkündbarkeitsprivileg für das Staatspersonal. Dieses Privileg wird gewöhnlich durch die „Hoheitlichkeit“ der diesem Personal übertragenen Aufgaben gerechtfertigt (zum Begriff der „Hoheitlichkeit“ s. Abschnitt B 1.4.1). Wie wirkt sich das in Einzelfällen aus?
Ein mit „Personenschutzmaßnahmen“ begründetes, einigermaßen komfortables Privileg für die obersten Staatsbeamten ist u. a. auch die Bereitstellung eines erklecklichen Fuhrparks für die Zeit nach ihrer Pensionierung. „Gerhard Schröder hat die meisten, Helmut Schmidt die modernsten und Helmut Kohl die dicksten Autos… So stehen Schröder (SPD) gleich sieben Fahrzeuge zur Verfügung, darunter neben mehreren Mercedes-Limousinen zwei VW-Transporter T5. Schmidt (SPD) begnügt sich mit vier Autos, allerdings waren zwei davon besonders teuer, nämlich je 94275,55 Euro überwies der Bund für zwei Mercedes 420 cdi. Kohl (CDU) wiederum reist am bequemsten von allen, er verfügt über drei, allerdings schon etwas ältere Mercedes 600 SEL sowie drei kleinere Mercedes-Modelle“ (SPIEGEL, Nr. 46/2012). Angesichts dieses Schlaraffenlebens könnte man richtig neidisch werden.

Es ist schon heftig, mit welcher Chuzpe Staatsfunktionäre und Staatsbedienstete die sogenannte „Gleichheit vor dem Gesetz“ auf der Basis von Art. 33/5 GG für sich nutzen. Ist deren Altersversorgung an sich schon exklusiv, so spottet es jeder Beschreibung, wie z. B. im wiedervereinigten Deutschland alle ehemaligen Westbeamten, die nun im Osten des Landes Dienst tun, ihre Altersversorgung nicht dem rechtmäßigen Dienstort angepasst, sondern durch üble Tricks einen Dienstort im ehemaligen Westen der Republik erfunden haben. Sie genießen damit bessere, ihnen an ihrem Dienstort eigentlich nicht zustehende Versorgungsprivilegien. Vor diesem Hintergrund ist übrigens verständlich, dass staatliche Dienstleistungen nur zu Wucherpreisen zu haben sind: ca. die Hälfte des Bruttosozialprodukts der deutschen Gesellschaft fließt dem Staat zu (s. Abschnitt B 1.4.2).

Privilegien sind Sonderrechte. Sonderrechte können privater Natur sein. Dann sind sie Sache der Rechtsgeber. Verschafft beispielsweise ein Herr seinem Diener eine unkündbare Stellung, dann ist das eine Frage seiner Privatdisposition und seines Privatbudgets. Sonderrechte können aber auch per Staatsgesetz gewährt sein. Dann sind sie allemal ein Skandal, weil alle Bürger ungewollt dafür haften müssen. Die Rede vom Staat als „Rechtsstaat“ ist solange eine Irreführung des Publikums, als es dort öffentlich-rechtlich festgeschriebene Privilegien gibt.

Es mag in verschiedenerlei Hinsicht interessant sein, dass sich neuerdings auch die deutschen Parlamentarier in die Klasse des „hoheitlichen Gewerbes“ einzureihen versuchen. Nun gelten deutsche Parlamentarier nicht schlichtweg zum Staatspersonal. Dies aber nicht deshalb, weil sie dessen Privilegien nicht genießen dürften, denn das dürfen sie, sondern deshalb, weil sie darüber hinaus noch Extraprivilegien gen haben, einige sogar mit Verfassungsrang: den Postbus oder die Eisenbahn zu benutzen, ohne zu bezahlen (Art. 48/3 GG; s auch die Art. 46 und 47 GG). Hier erübrigt sich jeder Kommentar.
Wer oft beruflich mit Behörden und Staatsbetrieben zu tun hat, weiß, dass die dem Staat angelastete Milliardenverschwendung (s. SPIEGEL, 38/94 ff und die zahlreichen Veröffentlichungen des Bundes der deutschen Steuerzahler) zu einem großen Teil auf das Konto des Unkündbarkeitsprivilegs der Staatsbeamten geht. Die Fehlleistungen des Staatspersonals sind beachtlich und bleiben für die Verursacher meist folgenlos. Sprechende Beispiele hierfür sind die „Steuergräber“ Flughafen Berlin, Hamburger Staatsoper und Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. Das Unkündbarkeitsprivileg ist das fatalste aller Privilegien, weil dadurch Milliarden an Volksvermögen mir nichts dir nichts im Irgendwo verschwinden.

Zum Artikel 3 GG ist noch zu ergänzen: Die Aussagen in den Absätzen 2 und 3 folgen direkt aus Absatz 1. Nirgends ist ein Grund dafür angegeben, warum in diesen Absätzen noch einmal Gleiches - mit anderen Worten - ausgesagt ist. Außerdem: Satz 2 von Artikel 3/2 ist kein Grundrecht, sondern eine Anweisung an den Staat, etwas Bestimmtes zu tun.
Auch der Artikel 4 GG enthält nur Folgerungen aus früheren Bestimmungen, So folgt Absatz 1 aus Artikel 2/1, Absatz 2 aus Artikel 1/3 und Absatz 3 aus den Artikeln 2/1 und 2/2. Gleiches gilt für den Artikel 5: dessen Absätze 1 und 3 folgen aus Artikel 2.
Artikel 6/1 schreibt ein Privileg fest, sofern er nicht fordert, was in Artikel 2 schon steht. Das Wort „besonderen“ deutet aber eher auf ein Privileg. - Zu Artikel 6/2 wäre zu fragen: was für ein formidables Lebewesen ist „die staatliche Gemeinschaft“, dass sie über Elternpflichten wachen kann? Dem Gemeinschaftsbegriff wird hier offenbar eine Art Entität untergeschoben (s. hierzu Einleitung zu Abschnitt B), die in der Lage ist, besondere Handlungen vorzunehmen. Artikel 6/4 diskriminiert Väter. Artikel 6/5 ergibt sich folgerichtig aus den Artikeln 2 und 3. Es bleibt daher unverständlich, warum hier ein gesondertes Grundrecht noch einmal formuliert werden muss.

Der Artikel 7 verstößt in Teilen komplett dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gemäß Artikel 2/1 GG, schon deshalb weil er von der Existenz der Schulen als von den allgemein zu nutzenden Bildungsstätten ausgeht und damit andere Bildungswege diskriminiert. Die „Aufsicht des Staates“ über die Bildungsstätten wird in Folgegesetzen denn auch so interpretiert, dass der Staat Schulzwang ausüben darf.

Die Aussagen in den Artikeln 8, 9, 10, 11 und 12 GG folgen unmittelbar aus Artikel 2/1.
Die Artikel des GG enthalten aber nicht nur Grundrechte, sondern auch Verbote. Mit Artikel 8/2 beispielsweise kann das Recht aus Artikel 8/1 verboten werden. Gleiches gilt für das Recht in Artikel 9/1, das laut Artikel 9/2 durch ein Verbot beschränkt wird.
Artikel 9/3 räumt einer Partei von Arbeitsvertragspartnern ein Privileg ein und diskriminiert damit die andere Partei. Das Grundrecht aus Artikel 10/1 ist eingeschränkt: durch Artikel 10/2, der es gestattet, dieses Recht zu vernichten. Ähnlich widersprüchlich verhält sich die Aussage über das Recht der Freizügigkeit aus Artikel 11/1 in Gegenüberstellung zu Absatz 11/2.
Artikel 12/1 folgt direkt aus Artikel 2/1. Er widerspricht diesem aber in den Artikeln 12/2 und 12/3. Denn er enthält mit der Einschränkung, die in Absatz 2 formuliert ist, einen Widerspruch. Berufsfreiheit und Berufszwang schließen einander aus. Eine Gesellschaft kann nicht beides zugleich haben wollen. Der Widerspruch wird noch offensichtlicher, wenn man den Artikel 12 a hinzu nimmt, der später eingefügt wurde. Dort wird - zumindest für einen bestimmten Lebensabschnitt - der Beruf des Soldaten für Männer vorgeschrieben. Die ursprüngliche Form des GG hätte nur eine Berufsarmee zugelassen! Mit der Schaffung des Artikels 12a nahm man (mangels besseren Wissens?) Zuflucht zu einer uralten Volk-unter-Waffen-Ideologie, die durch das Frankreich der Nachrevolutionszeit wiederbelebt worden war. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man dessen Hineinnahme in das GG mit der Erwartungshaltung bzw. dem Zwang der Alliierten zu rechtfertigen sucht. - Denn man hätte ihn ja anlässlich der zeit- und kostenintensiven Überarbeitung der Verfassung durch zwei hochkarätig besetzte Verfassungskommissionen wieder herausnehmen können.

Der Artikel 12a GG steht außerdem im Widerspruch zum Artikel 3 GG (Gleichheitsgrundsatz), weil er einen Teil der Bevölkerung indirekt begünstigt. Im Artikel 3/2 GG heißt es nämlich: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Ähnlich grob widerspricht der Art. 12a GG dem Art. 33/1 GG, der besagt, dass „jeder Deutsche“ die „gleiche(n) staatsbürgerliche(n) Rechte und Pflichten“ habe.

Wie eklatant hier die Widersprüche sind, hätten die deutschen Gesetzgeber spätestens bei Einführung des sogenannten „Zivildienstes“ bemerken müssen. Jetzt kann nämlich folgende Situation eintreten: Ein junges Paar, gleicher Schuljahrgang und gleicher Zeitpunkt der Gesellenprüfung, hat vor, im gleichen Beruf (Friseur) tätig zu sein. Sie wollen sich dort selbständig machen. Während nun sie ihre Karriere (Gesellen- und Meisterprüfung, Geld ansparen für Existenzgründung usw.) voll in Angriff nehmen kann und ihr Ziel u. U. in einem Zug erreicht, wird er für eine gewisse Zwischenzeit per „Zivildienst“ zu einem ihm fremden und von ihm nicht gewünschten Beruf, zum Beispiel Altenpfleger, zwangsverpflichtet. Erst danach darf er wieder an seine angestrebte Berufslaufbahn denken. - Vor dem Hintergrund solchen Widerspruchs muss man sich das neu eingeführte sog. Antidiskriminierungsgesetz auf der Zunge zergehen lassen.
Ich erspare mir hier die Aufdeckung der Widersprüche, Ungereimtheiten und Nachweise in den Artikeln 13, 14, 15, 16a und 17a (s. aber Abschnitte B 2.7.1 und B 2.7.3). Weitaus folgenreicher nämlich ist das Dilemma, das aus der gleichzeitigen Geltung der Artikel 2/1 GG und 123/1 GG erwächst. Der Artikel 2/1 schreibt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit fest. Der Artikel 123/1 setzt das vor Kriegsende schon gültige „öffentliche Recht“, aber auch das von den Nazis vielfach gemodelte Privatrecht, insbesondere das „Bürgerliche Gesetzbuch“ (BGB) wieder in Geltung und auch seine Neben- und Ergänzungsbücher. Wodurch entsteht hier ein Dilemma?

Wegen Artikel 2/1 GG muss die Handlungsfreiheit unbedingt gelten, z. B. auch Vereinbarungen und Verträge frei abschließen zu dürfen. Sie muss gelten, wenn sie weder „die Rechte anderer“, noch die „verfassungsmäßige Ordnung“, noch „das Sittengesetz“ verletzt. Nun sollen aber laut Art. 123/1 GG auch die „öffentlichen“ und die Zivilgesetze gelten.
Selbst wenn man die durch Art. 2/1 GG gegebenen soeben erwähnten Schranken berücksichtigt, müssten reihenweise Gesetze fallen, weil sie der in Art. 123/1 GG aufgestellten Bedingung nicht genügen, dem „Grundgesetz“ nicht zu widersprechen. Denn durchweg alle „öffentlichen“ und viele Zivilgesetze geben keine abdingbare Normen für das Handeln vor, sondern auch solche, die - etwa durch Geldstrafe oder Beugehaft - erzwungen werden können. Bei diesen handelt es sich nicht um frei vom Bürger zu übernehmende Gestaltungsmuster, sondern um Zwangsregulative (s. Abschnitt B 2.7.2).
Erzwingbare Normvorgaben positiven Rechts stehen der im „Grundgesetz“ proklamierten persönlichen Freiheit unversöhnlich entgegen. Die zivilen Gesetzesvorgaben sind in den meisten Fällen keine freien Gestaltungsangebote für Vereinbarungen und Verträge, sondern oktroyierte Gebote (s. Abschnitt B 2.2), vom „öffentlichen Recht“, von dem die Rechtsphilosophie sagt, dass es reines „Befehlsrecht“ sei, ganz zu schweigen. Die genannten Gesetze stehen dem Naturrecht, wonach Vereinbarungsfreiheit uneingeschränkt gelten muss, diametral entgegen. Grundsätzlich stehen Regulative des positiven Rechts, die nicht selbstbestimmt (also abdingbar) sind, immer im Widerspruch zu einem Grundsatz, der die Freiheit der Persönlichkeit festschreibt. Sie laufen letztlich auf Nötigung hinaus.

Die gravierendsten Folgen für das deutsche Rechts- und Staatswesen ergeben sich, worauf vor allem Roberto Natale Haslinger (2009) aufmerksam gemacht hat, aus dem Artikel 19 GG. Dieser Artikel thematisiert die Gesetzgebung des deutschen Bundesparlaments. Er bezieht sich auf jedes Gesetz, das die im „Grundgesetz“ aufgeführten „Grundrechte“ in irgendeiner Hinsicht einschränkt. Und davon sind mehr oder weniger alle betroffen, insbesondere das Wahlrecht. Im Artikel 19 GG ist unter Absatz 1, Satz 2 zu lesen: „Außerdem muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.“ Der Satz war ausdrücklich - als „Fessel des Gesetzgebers“ (Thoma Dehler, einer der Verfassungsväter) - in die deutsche Bundesverfassung aufgenommen worden.

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Bildquelle: schon wieder meine Leseecke: Ich kann sie euch nicht ersparen

Bei diesem Satz, erkennt Haslinger, „handelt es sich als Muss-Vorschrift um eine zur Vermeidung der Ungültigkeit eines solchen [die „Grundrechte“ einschränkenden] Gesetzes durch den Gesetzgeber zwingend zu erfüllende Gültigkeitsvoraussetzung.“ Nun ist diese Vorschrift - vermutlich wegen der Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit der in der deutschen Bundesverfassung zusammengewürfelten Aussagen - schon bei den ersten Gesetzgebungsvorhaben des Parlaments nicht beachtet worden. Das hat Folgen nicht nur für die Legitimität der meisten bundesdeutschen Gesetze, sondern auch für die Legitimität des gesetzgebenden Parlaments selbst. Denn das Parlament verdankt seine Existenz einem Wahlgesetz, das die in Artikel 19/1 Satz 2 benannte Gültigkeitsvoraussetzung nicht erfüllt, dass also somit rechtlich nichtig ist (s. dazu ausführlich Abschnitt B 3.4.4.1.2).

Aber nicht nur die offensichtlichen Widersprüche der Artikel des GG gegeneinander, sondern auch die mangelnde begriffliche Klarheit in den einzelnen Artikeln wirken sich folgenschwer auf das Verhältnis des Staates zu den Staatsbürgern aus und auch auf den alltäglichen Umgang der Staatsbürger untereinander. Mangelnde Klarheit hinsichtlich der Rechtsbegriffe hatte immer schon Einfluss auf die Art und die Form von Rechtskonflikten. Herrscht keine Rechtsklarheit, entstehen Reibeflächen auch dort, wo sie eigentlich nicht notwendig wären. Hier kann sich ein reichhaltiges Potential für irrationale und sinnlose Streitereien entfalten, was den Advokaten hohe Einkommen beschert.
Die in Abschnitt A 4 gegebene Formulierung des Naturrechts erlaubt, beim GG die Spreu vom Weizen zu trennen. Das will sagen: Alle Bestimmungen, die nicht genuin naturrechtsverwurzelt sind, müssen ihren Rang als „Grundrechte“ verlieren. Und zudem: Jene Bestimmungen, die von den Verfassungsschöpfern eindeutig nicht in der Natur des Menschen gefunden, sondern - z. B. in Form von Geboten und Verboten - gewissermaßen erfunden, also originär gesetzt wurden, wären aus den „Grundrechten“ zu verbannen und dem statuarischen Recht (s. Abschnitte A 4, B 2.3 ff und B 2.4 ff) zuzuschlagen.
Die „Grundrechte“ in den Artikeln 1 bis 19 und 103 bis 104 GG waren hier vor dem Hintergrund des Naturrechtsgrundsatzes zu analysieren. Die dabei zutage tretenden Ungereimtheiten sind zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass das „Grundgesetz“ nicht klar zwischen Naturrecht und statuarischem Recht unterscheidet. Dadurch wurde die genaue Abgrenzung dessen, was zum reinen Naturrecht gehört von dem, was zum statuarischen Recht (Kunstrecht) gehört, vereitelt. Das musste zu widersprüchlichen Aussagen führen. So wurde insbesondere nicht gesehen, welche wichtige Funktion dem statuarischen Recht angesichts der Januskopfigkeit des Naturrechts zukommt (s. Abschnitte A 4 und B 2.2)).
Es wäre jetzt weiter zu fragen, ob die bisher in der hier vorliegenden Schrift nicht berücksichtigten Artikel der deutschen Verfassung (die im wesentlichen Regeln zum Aufbau und zur Funktion des Staatsapparats darstellen) naturrechtskompatibel sind. Eine Untersuchung dieser Frage kann hier in Gänze nicht geleistet werden. Jedoch komme ich in einzelnen Abschnitten des Hauptteils B auf den einen oder anderen Artikel des GG zurück.

Je gedankenloser die Grundlegung eines gesellschaftlichen Status, desto irrwitziger sind die Folgen. Die Irrationalität und Sinnlosigkeit des Streitens von Konfliktparteien wird verstärkt, wenn Rechtsgeber die Grundlegung vernünftiger Formen der Konfliktlösung verpatzen. Dies geschah und geschieht infolge des GG in einem Umfang, dass oft selbst die „Experten“ nichts mehr verstehen. Hundertschaften von Anwälten und Konsultanten mischen im Interesse ihrer Mandantschaft das basisrechtlich bedingte Rechtschaos noch zusätzlich an. - Es spricht nicht für eine Verfassung, wenn auf der von ihr geschaffenen Rechtsbasis eine Rechtsgemeinschaft zu einem Advokatenregime verkommt.

Sort:  

Männer und Frauen sind vor dem Gesetz gleich.
Werden aber in Bayern Beamtenstellen ausgeschrieben heißt es:
"Bei gleicher Qualifikation sind Frauen zu bevorzugen."

Sich mit juristischen Fragen auseinanderzusetzen, ist nun wirklich Zeitverschwendung. Das reinste Nuttenbusiness.

Nachdem es mit den Nutten auch nicht mehr so prickelnd ist, macht man manchmal auch unsinniges Verrücktes = Ver-Rückten

Gibt es nun ein Diskriminierungsgesetz oder nicht? Gibt es nun Privilegien, wenn doch alle vor dem Gesetze gleich sein sollen?
Das Durcheinander im Grundgesetz erkannt? Wie soll es dann mit den einfachen Gesetzen funktionieren, wenn der Ursprung schon ein Chaos ist?

Das Naturrecht richtig angewendet kann enorm stark sein. Es reicht ein winziger Abschnitt in einem Buch um ein gesamtes Verfassungswerk inkl. der Menschenrechtscharta auseinander zu nehmen.
Da könne Richter schon mal verzweifeln wenn ihnen das alles um die Ohren fliegt. Da kann ich RichterInnen verstehen, wenn man solch einen Angriff lieber ignoriert.

Das Problem ist halt einen neutralen Richter zu finden, der von beiden Seiten anerkannt wird.
Leider in unserem System nicht möglich.

Gibt es den einen Gerichtsfall wo sich der Angeklagte auf seine Grundrechte berufen hat und somit seiner Anklage entkommen ist. Darf eigentlich der Richter-in die Konsequenzen aus dem Grundgesetzt ignorieren??? Welche Moeglichkeiten habe ich mein Recht durchzusetzen?

Den Fall gibt es, aber bis zum Abschluss, wenn es diesen überhaupt geben wird, musst du dich noch gedulden. Um dein Recht durchzusetzen bedarf es Unabhängigkeit, Mut, Rückgrat, Durchhaltevermögen, Unmengen an Rechtswissen und jede Menge Kalkül und vielleicht ein Ass im Ärmel.

Servus,

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