Eine freie Gesellschaft braucht ein Fundament. Teil 4

in #freie-gesellschaft5 years ago (edited)

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Heute ist die Gesellschaftlichkeit des Ich im Fokus. Ich empfehle die Lesegeschwindigkeit etwas zu verringern, da ansonsten ein Stolpern passieren könnte.

In Teil 3 der Serie #freie-gesellschaft hatten wir die beiden Daseinsweisen des Ich im Blick. Nun ist das Thema der vorliegenden Serie die Gesellschaft. Und die dokumentiert sich in der Art, wie das Ich (Ego) dem Du (auch Alter-Ego genannt) begegnet. Die Anderen kommen ins Spiel (übrigens auch die das Ich beherrschenden Machthaber).

Wie steht es nun beim Du mit der Daseinsweise eines Ich? Gibt es auch dort den in Teil 3 beschriebenen Dualismus und damit eine Ebene, auf der sich Ich und Du nicht bloß rein körperlich begegnen können?

Das eine ist, das Du zu haben. Das andere ist, das Du zu erkennen. Hier gibt es eine unübersehbare Schranke. Das Du als Person - als „intelligibles Ich“ - zu erfassen, ist uns nicht möglich. Es ist als Phänomen nicht originär erlebbar, geschweige denn erkennbar. Wir können den Anderen wohl körperlich begegnen, ihnen aber „nicht in den Kopf gucken“. Manche meinen zwar, mit Hilfe von Gerätschaften, das Ich im Du enträtseln zu können, aber bisher ohne Erfolg. Dieses Unterfangen wird auch fürderhin ohne Erfolg bleiben. Eine Erkenntnisbarriere verhindert das Erfassen des Anderen als Du - als ein besonderes „intelligibles Ich“ neben dem meinen.

Ich kann zwar mein eigenes Ich, als Spontanzentrum meiner Aktivitäten originär erleben, wenn auch nicht erkennen (s. Teil 3 in #freie-gesellschaft). Aber nicht nur meinem Erkennen, sondern auch meinem Erleben bleibt das Du in Gestalt eines eigenständigen Ich verschlossen. Der Selbstversuch, das Du als Ich zu erleben, muss scheitern. Denn der sonderbare Charakter des Ich-Erlebens bedingt, dass es sich stets nur auf das eigene Ich richten kann und auf dieses beschränkt bleibt.

Bei meinem Nachbarn kann ich ein Ich nicht entdecken, auch wenn der noch so oft „ich“ sagt und wenn ich noch so gerätebewaffnet in seinen Kopf schaue. Wir erleben das Du nur immer so, wie es uns erscheint: als Eigenschaftsträger, als Handelndes, als Sprechendes und - mit Hilfe von Geräten - als neuronal Aktives, aber nicht als originäres Ich. Das andere Ich als solches befindet sich jenseits unseres Erlebnis-, geschweige denn Erkenntnishorizonts.

Wie erzeugt sich beim Ich dann aber Gesellschaftlichkeit - als Beziehung des Ich zum Du? Anders gefagt: wie erfolgt die Du-Konstitution des Ich? Das ist die Kernfrage menschlicher Gesellschaftlichkeit. An dieser Kernfrage gehen die meisten Gesellschaftstheoretiker achtlos vorbei. Die Antwort wird vor allem dadurch erschwert, dass das Bewusstsein sowohl über das Ich als auch über das Du nicht aus einer Erkenntnis stammt (im Sinne von Naturerkenntnis).

Da sich das Ich (per Reflexion) nur immer selbst erlebt, bleibt ihm das Du als solches verschlossen (obwohl das Du als habitus, als Leib mit seinen Aktivitäten und Bedürfnissen präsent ist und real erkannt werden kann). Jeder Versuch, auf dem Terrain der Dufindung echte Erkenntnis zu erlangen, scheitert an den Grenzen unseres Intellekts. Diese Grenzen sind aufgrund der Forschungen Kants für jeden deutlich sichtbar gezogen. Daraus folgt: Aussagen über das Ich (im Sinne eines „intelligiblen“ Ich; s. Teil 3) und über das Du (gleichfalls im Sinne eines „intelligiblen“ Ich) können auf den Boden des (Natur-)Erkennens nicht gegründet werden.

Wie kommt es dann überhaupt zum Haben eines Du, zum Bewusstsein vom Spontanzentrum bei einem anderen Menschen, mit anderen Worten: zum Bewusstsein des Anderen als Person? Gesellschaftlichkeit des Ich setzt doch voraus, dass es ein anderes Ich gibt, dem das eigene Ich als Du begegnen kann! Ohne dies muss jede Form menschlicher Sozialität in sich zusammensinken.

Es gibt für uns Menschen offenbar keinen anderen Weg zum Du (zum „intelligiblen Ich“ des Anderen) als den Weg einer Ich-Transferation. Das Du (als „intelligibles Ich“) wäre somit ein Entwurf des Ich, eine „Hineinverlegung“ des originär erlebten eigenen Ich in den Anderen. Der ist mir ansonsten nur physisch, nicht aber als Ich, als Eigenspontaneität präsent. Das Du als eigenes Ich (nicht als Leib, sondern als Person!) kann mangels anderer Zugangsmöglichkeiten nur aufgrund eines Willensaktes quasi von mir erzeugt werden. Der Leser versuche einmal, das Du (als „intelligibles Ich“) über einen Erkenntnisakt zu gewinnen.

Der Körper, die Eigenschaften, Gewohnheiten und Bedürfnisse eines anderen Menschen sind für mich sinnlich präsent. Das Du aber, als das Ich des Anderen, ist für mich weder erfahrbar, noch sonst irgendwie (z. B. über Reflexion) originär erlebbar. Das Ich (Ego) erlebt das Ich des anderen (Alter-Ego) nie direkt. Es erlebt nur dessen Äußerungen im Handeln, in seinen verbalen Bekundungen usw. Wie kommt also das Ich dazu, überhaupt von einem Du im Sinne eines Alter-Ego zu sprechen? – Nicht anders als dadurch, dass es seinem Gegenüber ein Ich - sein eigenes, originär erlebtes - schlichtweg überträgt, es ihm gewissermaßen einpflanzt. Von da an ist nicht nur das Ich „zweimal da“ (s. Teil 3), sondern auch das Du.

Die Du-Konstitution ist kein originäres Erlebnis. Aber sie beruht auf einem originären (nicht-physischen!) Erlebnis: dem bewussten Haben des Ich - als Quell der eigenen Aktivität und Spontaneität. Erst auf dieser Basis kann die Du-konstituierende Transferation durch das Ich erfolgen. Die Du-Konstitution ist ein wissentlich und willentlich vollzogener freier Akt des Ich. Und weil dieser Akt auf dem Entwicklungsweg hin zur Gesellschaftlichkeit die Hauptweiche stellt, kann man in ihm den eigentlichen gesellschaftsbildenen Akt, den sozialen Grundakt schlechthin sehen.

Der Willensakt „Du-Konstitution“ stiftet das tragende Gerüst menschlicher Gesellschaftlichkeit. Aus ihm erwächst „die Idee der Menschheit in unserem Subjekte“ (Kant). Er ist dafür verantwortlich, dass es für ein Ich überhaupt so etwas wie ein Du (im stringenten Sinne) gibt, auf das es sich einlassen kann, mit dem es sich besprechen, Verträge schließen kann usw.

Die elebnismäßige Basis für die bewusst vorgenommene Ich-Transferation ist schon sehr früh gelegt: mit der Beobachtung des Kindes, dass auch alle Anderen - so wie es selbst - „ich“ sagen. Die spätere bewusste Konstitution des Du erfolgt auf der Basis dieses Vorverständnisses. Sie macht aus dem Anderen, dem bloßen Alter, das Alter-Ego. So bildet mein Ego den Anderen gleichfalls zum Ego-Isten. Das ist von außerordentlicher Bedeutung für den Umgang miteinander. Denn aufgrund der Ich-Transferation nimmt mein Egoismus den Egoismus des Alter-Ego gewissermaßen in sich auf. Mein Egoismus wird altruistisch. Das ist die Grundlage des Altruistischen.

Die These, dass es mein eigener Wille ist, der nicht nur das Ich, als reines Ich, sondern auch das Du, ebenfalls als reines Ich erzeugt, ist ein erkenntnistheoretisch begründetes Erfordernis. Denn unser Erkenntnisvemögen hat nicht nur dort seine Grenze, wo es um das eigene Ich geht, sondern auch dort, wo es um das Ich des Anderen, um das Du geht.
Ich verwende für die Du-Konstitution auch die Redewendungen „Übertragung des Ich in das Du“, „Hinausverlegung des Ich in das Du“, „Hinaustreten des Ich zum Du“, ohne dabei an eine Erkenntnis zu denken. Denn die Konstitution des Du (als „intelligibles Ich“ des Anderen) ist keine Erkenntnis. Sie ist eine willentlich in Gang gesetzte Unterstellung oder Verleihung. Das Ich schenkt gewissermaßen dem Du ein Ich.

Als das transferierende Ich muss ich dem Anderen dessen Ich quasi unterschieben. Das fällt mir um so leichter, desto mehr ich das, was ich als Ausfluss meiner eigenen Spontaneität bei mir selbst erlebe, auch beim Anderen beobachte. Vor allem das Ich-Sagen des Anderen stärkt die Vermutung, dass der Andere sein Ich genau so erlebt wie ich das meine. Aber das ist und bleibt eine bloße Vermutung und ist keine Erkenntnis. Eine Du-Erkenntnis erwächst für mich auch dann nicht, wenn ich das Du bei seinem Ich-will-Sagen oder auch bei seinem Ich-will-nicht-Sagen ganz massiv als mir widerstrebend erlebe.

Die Erzeugung des Du - als „intelligibles“ Du - ist ein Vorgang jenseits der von mir erfahrbaren Physis. Sie darf daher auch „meta-physisch“ heißen. Der oben so genannte soziale Grundakt bewirkt demnach ein meta-physisches Kollektiv zwischen Ich und Du. Dieses Kollektiv ist das eigentliche Wir, und zwar das Wir nicht in dem Sinne, wie es sich z. B. bei einem körperlichen Zusammensein in einer Gruppe zeigt, sondern das Wir in einem viel tieferen, innigeren Sinne, im Sinne des nichtphysischen Zusammenseins von „intelligiblem Ich“ (Ego) und „intelligiblem Ich“ der Anderen (Alter-Ego).

Hin und wieder wird die Behauptung aufgestellt, ein klares Bewusstsein vom eigenen Ich sei nur über das Du zu erlangen. So pauschal dahingesagt kann ich dem nicht beipflichten. Sollte die Behauptung aber bedeuten: Der historische Werdegang der Ich-Findung, und zwar in dem Sinne, dass sich am Ende das Ich als „reines“ in aller Bewusstheit wirklich hat, wird durch ein Du angestoßen und ausgelöst, z. B. durch eine zwischenmenschliche Grenzerfahrung, dann stimme ich ihr zu. Ausgang und Ursache der Ich-Findung liegen aber bei mir selbst. Das gilt auch für die Du-Findung.

Die Erzeugung des Du als Person ist eine freie, durch den analytisch kultivierten Intellekt bewirkte Entscheidung. Die wahre Du-Konstitution ist Willenssache und nicht Sache einer forschenden Suche nach dem Ich des Anderen mit den Methoden und Gerätschaften einer empirisch verfahrenden Wissenschaft. Es ist auch hier wieder (s. Teil 3) lediglich eine Frage des persönlichen Entwicklungsstands, das Du nicht nur als einen empirisch begegnenden Habitus zu sehen, sondern auch als eigenständiges Ich - und somit als Selbstzweck. Die Selbstzweckwerdung des Anderen ist der Ur-Akt der Schöpfung menschlicher Gesellschaftlichkeit - im Unterschied zur tierischen.

Gäbe es das („intelligible“!) Du nicht, dann würde das Ich sein Gegenüber nur als Ding unter anderen Dingen erleben, das als Mittel für eigene Zwecke vielleicht dienlich, in sich selbst aber nicht zweckhaft ist. Mit der Ich-Transferation zum Du wird der Selbstzweckcharakter des Ich in das Du transferiert. Dadurch wird auch das Du zum Selbstzweck. Mit anderen Worten: mit der Du-Konstitution billigt das Ego das Alter-Ego, und damit den Egoismus des Du. Dadurch ist der Andere nicht mehr nur Mittel für mich, sondern ist - genauso wie ich - Selbstzweck. Ist die Du Konstitution nicht vollzogen, dann hat das Ich das Du noch nicht ganz in sich aufgenommen. Das Du als Selbstzweck ist dem Ich fremd. Der Altruismus ist dann noch nicht Teil des Egoismus.

Kant hatte seinen kategorischen Imperativ, von dem es in seinen Werken insgesamt ca. 20 Fassungen gibt, auch so formuliert: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Aufgrund der Anerkennung des Du als eigenständiges Ich ist der Egoismus des Du, d. h. seine Selbstzweckhaftigkeit gesichert. Sie ist dies, weil das Ich will, dass das Du sich selbst besitze, sich seiner Natur gemäß entwickle, seine eigenen Ziele erkenne und verfolge, weil das Ich will, dass das Du Selbstzweck sei.

Das noble Verhalten, die Anderen nicht nur als Mittel, sondern auch als Selbstzweck zu sehen, ist prinzipiell jedem Menschen möglich – wenn er sein Ich (Ego) soweit vorangebracht hat, dass es einen Anderen als eigenständiges Du (Alter-Ego) durch einen Transferakt gewissermaßen in sich aufnimmt. Insofern ist der Willensakt der Ich-Transfration hinein in das Du nicht nur der soziale Grundakt überhaupt, sondern zugleich auch der ethische Grundakt.

Die Anderen nicht nur als Mittel, sondern auch als Selbstzweck sehen, das muss man wollen! Diesen Sachverhalt bewusst zu haben, ist nicht nur von erkenntnistheoretischer Bedeutung. Solches Bewusstsein ist auch für ökonomische, juridische und politische Überlegungen unabdingbar.

Puuuh, da muss man selbst beim schreiben aufpassen, daher ist heute Teil 4 beendet. Alle Teile sind unter #freie-gesellschaft zum Nachlesen hinterlegt.

Der nächste Teil folgt

Euer Zeitgedanken

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Gut, dass Du das alles hier in der Blockchain verewigst, auch wenn es leider jetzt hier immer einsamer wird, wo sich so viele von Steemit verabschieden.

Die Flucht aus Steemit ist schon ganz gewaltig.

Um Gerhard Löwenthals Autobiographie zu zitieren:
"Ich bin geblieben."

ich werde auch bleiben. Und wenn ich der letzte bin, muss mir noch jemand vorher sagen wo der Lichtschalter ist.

man lernt doch immer was neues, heute habe ich ein vote von @camillesteemer erhalten. Seine Power ist -100%. wie geht das denn?

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