Politik 115 - «Nazis raus!» als Mittel zur Bewältigung politischen Wandels?

in #deutsch5 years ago (edited)

12. Januar 2019

Gestern habe ich einen Auszug aus einer Vorlesung [1] von Prof. Werner Patzelt [2] veröffentlicht [3].

Heute möchte ich ein ganz aktuelles Thema - «Nazis raus!» - in die dort dargelegte Auflistung vornehmen. Die Auflistung trug den Titel Bewältigung von Wandel und die Steuerungsmuster politischer Eliten. Sie beinhaltete vier Stufen, aufgelistet nach dem Nutzen, den die Massnahme insgesamt bietet.

  1. Reformismus
  2. Einbindung der Führer von Protestgruppen
  3. Durchwursteln
  4. Die Harte Linie

Die Einteilung des genannten Beispiels vorzunehmen kann leicht als ketzerisch interpretiert werden. Denn, wie sollte man eine infantil anmutende Kampagne wie «Nazis raus!», die trotz ihrer offensichtlichen Einfalt von der etablierten Politik, als auch von öffentlich-rechtlichen und privaten Medien gestützt wird, einteilen? Wenn gerade Politik und Medien sonst nicht müde werden, sich ohne nähere Erklärung für Vielfalt und Buntheit stark zu machen, widersprechen sie sich mit der Unterstützung einfältiger Slogans erst einmal selbst. Deswegen müssen sie sich darauf verlassen können, keine genügend einflussreichen Gegner zu haben, die den Widerspruch wirksam entlarven.

Bei Reformismus und Einbindung von Protestbewegungen ist «Nazis raus!» sicherlich nicht zu verorten, denn es soll einerseits möglichst wenig and der gegenwärtigen Regierungssituation geändert werden. Andererseits begeistert man mit plakativen 1-5 Wörter kurzen Slogans höchstens die eigenen Leute und Mitläufer, die sich gerne leiten lassen und sich darüber freuen, wenn sie unterhalten werden und sozusagen etwas läuft. Das habe ich diese Woche schon in einem längeren Beitrag dargelegt [6].

Zum Durchwursteln passt die Kampagne ziemlich gut. Es gibt einige Baustellen, aber es gibt eine, die erscheint besonders unangenehm und da wird versucht, die Schuld für alle Fehlentwicklung zu entsorgen. Mit dieser Art von Haltung ist man dauernd davon abhängig, Schuldige produzieren zu können, die aus der guten Gesellschaft auszugrenzen sind. Man hat also längst nicht mehr die Gestaltungsfreiheit, die man beispielsweise auf der Stufe eins hat. Um sich gegen populäre oder fundierte oppositionelle Inhalte in Zukunft weiter wehren zu können steht man der Anwendung der harten Hand wohl näher als dem Reformismus.

Dass echte Bekenntnisse zum Nationalsozialismus und entsprechende national-sozialistische Äusserungen wenigstens gerügt gehören, erscheint mir unstrittig. Aus meiner Sicht habe ich das Thema ausführlich und treffend abgehandelt und meine Abneigung gegen totalitäre Ideologien deutlich gezeigt. Dennoch wird jemand wie ich derzeit von einzelnen «Nazis raus!»-Aktivisten bei Twitter blockiert, was mir signalisiert, wohl in der Nazi-Kategorie verortet zu werden, ein Irrtum der kaum grösser sein könnte.

Zu einem erwachsenen Umgang mit der ganzen Nazi-Thematik gehörte, noch einmal, dass 1. jeder ziemlich genau weiss, was Nationalsozialismus ist, 2. welche Handlungen diese Ideologie propagiert hat und 3. dass jeder, der sich entsprechenden Vokabulars und entsprechender Inhalte bemächtigt, gerügt wird. Dies unabhängig von der Partei-, Vereinszugehörigkeit oder sonstiger Weltanschauung.

Es kann nicht sein, dass einzelne einen Freifahrtsschein dafür erhalten, für die Wiederholung bereits unter der Nazi-Herrschaft gescheiterter, planwirtschaftlicher Ideen einzustehen, während anderen auch ohne jeden Wahrheitsgehalt permanent eine Nähe zu national-sozialistischem Gedankengut unterstellt wird. Genau dieser Freifahrtsschein wird aber von nicht wenigen trotz objektiver Nichtexistenz gerne in Anspruch genommen.

Dies hat auch die von mir mehrfach erwähnte, kontroverse Debatte im EU-Parlament vom Herbst 2018 gezeigt [5]. In dieser haben Angehörige der Fraktion der Sozialisten und Sozialdemokraten vehement der Aussage eines konservativen und muslimischen Abgeordneten widersprochen, der den Nationalsozialismus eine Form des Sozialismus nannte. Die Sozialdemokraten versuchten sich auf das Argument zu stützen, dass es deswegen keine Nähe zwischen Sozialisten und Nationalsozialisten geben könne, da die Sozialdemokraten unter den Nationalsozialisten verfolgt worden seien.

Dass sie unterdrückt und verfolgt wurden ist absolut richtig. Richtig ist aber auch, dass das kein gutes Argument ist. Denn gerade dann, wenn in einigen Bereichen eine Nähe vorhanden ist, ist eine besonders erbitterte, intensive Auseinandersetzung wahrscheinlich. Als ein Beispiel dafür können die jahrhundertelang währenden Konflikte zwischen römisch-katholischen und reformierten Christen betrachtet werden. Beide Konfessionen verwenden das gleiche Buch als Grundlage und doch existieren so grosse Unterschiede, dass es zu katastrophalen Kriegen, Vertreibungen und Verfolgungen kam.

Doch im ganz klaren Unterschied zum konfessionellen Konflikt haben die Nationalsozialisten verloren, ihr Programm gilt weitherum als nicht sinnvoll, vor allem bei den überzeugten Verfechtern der Marktwirtschaft. National-sozialistische Ideen haben vor allem dann Zulauf, wenn international-sozialistische nicht zuletzt unter Sozialisten als gescheitert gelten. Die national-sozialistische französische Partei Rassemblement National - früher Front National [6] - hat in der letzten Dekade durchaus enttäuschte Linke anziehen können [7].

Für heutige Oppositionelle, die sich selbst möglicherweise überhaupt nicht über eine Nähe zum tatsächlichen Nazitum oder zur Ideologie des Nationalsozialismus identifizieren, vernünftigerweise vermeidet man das tunlichst, ist die Kampagne «Nazis raus!» eine Provokation. Sie, die nicht notwendigerweise verwerfliche Interessen vertreten, nur solche, die der aktuellen Regierungspolitik widersprechen, werden leicht erkennbar nicht wahrheitsgemäss mit Menschen in Verbindung gebracht, die in der Vergangenheit aus der Herrscherposition heraus schwerste Verbrechen begangen haben. Dieselben sind auch durch grosse Machtgier und Kontrollwahn aufgefallen, was vor allem dann nicht zusammenpassen kann, wenn sich Oppositionelle beispielsweise in der Tradition des klassichen Liberalismus sehen.


[1] TECHNISCHE UNIVERSITÄT DRESDEN - Grundkurs Politische Systeme - 8/14 - Wandel und Scheitern politischer Systeme - Prof. Patzelt. MOOC PolSys, 20. Dezember 2018 (gehalten am 05. Dezember 2017)
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_J_Patzelt
[3] Zitate 111 - Prof. Werner Patzelt über den wahren Konservativen. @saamychristen, 11. Januar 2019 https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/zitate-111-prof-werner-patzelt-ueber-den-wahren-konservativen
[4] Medien 024 - Ironie kann man nicht verordnen - Was genau ist Nazi? @saamychristen, 08. Januar 2019 https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/medien-024-ironie-kann-man-nicht-verordnen-was-genau-ist-nazi
[5] Politik 103 - Kontroverse im Parlament der Europäischen Union mit Syed Kamall (UK, CP). @saamychristen, 25. Oktober 2018 https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/politik-103-kontroverse-im-parlament-der-europaeischen-union-mit-syed-kamall-uk-cp
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Rassemblement_National
[7] Frankreichs Rechtsextreme - Die Kleinstadt des Frontisten. WOZ, 2016/28, 14. Juli 2016, von Yves Hegelin https://www.woz.ch/1628/frankreichs-rechtsextreme/die-kleinstadt-des-frontisten
[8] Didier Eribon - Zurück zu den entscheidenden Kämpfen. WOZ, 2016/42, 20. Oktober 2016, von Daniela Janser https://www.woz.ch/1642/didier-eribon/zurueck-zu-den-entscheidenden-kaempfen


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Super Artikel!
Das ist so ziemlich der Grund warum rechts und links doof sind..
Viel zu viel Spaltung der Gesellschaft.. Und dann noch auf so emotionaler Ebene.

Das ganze wurde einfach so genial instrumentalisiert.

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Klar! Aber wird sind doch längst jenseits von ernsthaften Diskussionen. Die Gesellschaft ist viel zu stark polarisiert. Entweder man ergreift Partei - oder kriegt eben von beiden Seiten auf die Glocke (wie im Artikel ja auch deutlich zur Sprache kommt).
Wo geht es noch um die Sache? Wo gibt es noch eine echtes (im Sinne der Aufklärung) "Links"?
Es reicht schon dass Du kein Problem mit anderer Kulturen Religion hast um mindestens als "Linksgrün-versifft" durchzugehen -und will man sich das nicht sagen lassen oder fühlt sich beleidigt, liegt einem das "Nazi raus" schnell auf der Zunge.

Deswegen habe ich so viel Hoffnung in open-source und Technologie.
Wir müssen den Menschen ein machtvolles Werkzeug zum strukturierten Meinungsaustausch geben.
Dieses Werkzeug wird sich anschließend in Strukturierung von Menschen umwandeln.
Am besten auf Freiwilligkeitsbasis. Anarchie. Konsens.

Genauso kann Technologie und open-source in dem Thema Chancengleichheit (bei beispielsweise Neugeborenen) weiterhelfen. Ich glaube nicht so sehr auf Umverteilung..
Bzw. Crypto und Technologie sind die "Umverteilung".
Greets :)

Danke für die Beiteiligung an der Diskussion hier!
Dass die Gesellschaft in vielen Bereichen bereits zu sehr polarisiert ist, sehe ich auch. Aber dennoch gibt es wenigstens aus meiner Sicht nichts, was einen bestehenden, womöglich auch nur noch beschränkt funktionierenden Dialog ersetzen könnte.

Da man mit anderen Menschen nicht identisch ist, wird es stets Steine des Anstosses und Meinungsverschiedenheiten geben. Es ist sinnvoll, sich auf eine Ethik zu einigen, die darauf beruht, dass

  1. es eine Privatsphäre gibt, die jedes Individuum für sich in Anspruch nehmen kann, in der es nicht belästigt wird
  2. es möglichst wenige aufgezwungene Verträge gibt,
  3. niemand für sich in Anspruch nehmen kann, einfach nichts tun zu dürfen.

Links/grün-versifft halte ich auch nicht für einen sinnvollen Ausdruck. Damit drückt man ausser Abneigung gar nichts aus. Ich bin dafür, dass man stets konkret bleiben sollte, wenn man etwas kritisiert. Natürlich kann man einmal generalisieren und Linken beispielsweise vorwerfen, dass sie ihre Projekte und Ideen kaum je aus eigener Kraft realisieren und von anderen abhängig sind.

In der Schweiz wurde von linker Seite immer wieder moniert, dass Ausländer für zu geringe Gehälter arbeiten. Das ist wohl nicht völlig verkehrt, aber es ist auch so, dass ausländische Firmen hier tätig sind und damit sogenannte Lohndrückerei betrieben haben. Und es hindert diese Linken niemand daran, den Aufwand auf sich zu nehmen und selbst Firmen zu gründen und dann eben höhere Gehälter zu zahlen, also mit gutem Beispiel voranzugehen.

Das nicht zu tun, sondern nur das Verhalten des Gegners anzuprangern ist eine klassische Alinsky-Strategie, hatte ich vor kurzem hier auch aufgelistet.


Ideologie 109 - Eine Anmerkung zu Saul Alinsky - 2 Teile. @saamychristen, Januar 2019. Teil 1: https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/ideologie-108-eine-anmerkung-zu-saul-alinsky-1-2 Teil 2: https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/ideologie-109-eine-anmerkung-zu-saul-alinsky-2-2

Ach, ein echtes "Links" - und zwar im Sinne der Aufklärung, sehe ich schon lange nicht mehr. Überall wo es in Europa im Begriff war zu stark zu werden, wurden linke Bewegungen und Linke Politik auch niedergeschlagen. Siehe Schweden mit Olaf Palme oder Italien.
Was sich heute "links" nennt bringt keine neue Ideen mehr sondern pflegt die alten Zöpfe die auf unsere Gesellschaft aber doch längst überholt sind.
Dass es ein "Recht auf Nichtstun" geben sollte, finde ich schon. Alles andere ist Zwangsarbeit. Im Grunde hatten wir das im Westen doch. Die Leute konnten mit der "Sozialhilfe" ein halbwegs würdiges Leben führen ohne zu etwas gezwungen zu werden. Hatten halbwegs Sicherheit für ihre Existenz. Wir waren weder im Dreck erstickt noch gab es Versorgungsengpässe. Der Mensch ist nicht per se faul sondern strebt nach mehr und war durchaus bemüht noch was obendrauf verdienen zu wollen.
Im Grunde ist das System überholt. SÄMTLICHE ständig durchgekauten Systeme waren auf die Industrialisierung gemünzt wo jede Arbeitskraft zählte.
Schätze wir müssten uns erstmal auf den Sinn einer "Wirtschaft" besinnen.
Ist dieser nicht, die möglichst optimale Versorgung einer Gesellschaft mit Waren, Dienstleistungen und Energie? Da setzt man dann noch ein Finanzsystem oben drauf, damit der Warenaustausch reibungslos läuft.
Bei uns ist beides längst pervertiert. Zum Selbstzweck geworden. Die größten Gewinne werden dort gemacht (nicht erwirtschaftet) wo NULL Gegenwert für die Gesellschaft entsteht. Vollkommen legitim und gesellschaftlich anerkannt. Keiner würde es wagen diese Spitzenverdiener, die heute Nacht alle tot umfallen könnten ohne dass irgendwer etwas bemerkt, als "Schmarotzer" zu bezeichnen.

Ja, ich weiß - da geht's an Eingemachte und Lösungen habe ich auch nicht auf Lager. Auch sowas wie ein BGE wäre nur an den Symptomen geschraubt.
Irgendwie auch müßig in einer relativ verfahrenen Situation 1. die Welt retten zu wollen, aber 2. auch selbst zu schaun wo man bleibt und folglich das Spiel einfach spielt.

Vielleicht überdenken kommende Generationen das alles ja nochmal.

Beim Recht auf Nichtstun habe ich mich vielleicht nicht klar ausgedrückt. Ich mag sicherlich keine Sklaverei, wenn sich jemand also frei zum Nichtstun entscheidet und die Konsequenzen davon selber trägt. Es muss einem erlaubt sein, Risiken einzugehen.

Wobei sich auch da schon wieder gewisse Einschränkungen geben kann. Wie soll man mit einer Familie umgehen, wenn sich die Eltern zum reinen Nichtstun entscheiden und ihre Verantwortung für die Kinder nicht wahrnehmen wollen.

Wie dem auch sei. Ansonsten lasse ich die Antwort gerne so stehen wie sie ist. Dass es zu einigen Veränderungen kommen wird und muss, steht für mich ausser Frage.

Sicher! Hartz über Generationen hinweg. Es ist üblich.
Nur wo ansetzen? Die Eltern zum Ackern zu verdonnern wäre wohl kaum hilfreich. Die Kids sehen dann auch nur frustrierte Eltern die ständig angepisst und im Streß sind.
Nun zieht sich das Problem aber ja durch alle Gesellschaftsschichten. Man darf da nicht ganz "unten" isoliert betrachten. Das Phänomen trifft ja auch zu für Kinder aus Akademiker-Haushalt, die dann selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit studieren.
Ist es doch vererbte Intelligenz? Einfach das Umfeld zuhause das nachgeahmt wird? Oder einfach die Chancengleichheit heute vollkommen flöten gegangen?

Danke für den Kommentar und das Lob!
Es freut mich, wenn meine Beiträge gut ankommen. Und, hier habe ich es zwar nicht angesprochen, gerade unter den Intellektuellen sind viele, die voll dabei sind, die Spaltungen weiter voranzutreiben und ihre Missgunst nicht verstecken. Das dürfte ihnen langfristig nicht gut bekommen.

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