Auf dem Weg

in #deutsch4 years ago (edited)

Einst war sie da – die Möglichkeit, umkehren zu können. So richtig zufrieden waren sie tief in ihrem Inneren schon lange nicht mehr gewesen, aber die Angst davor, alles auf einmal zu verlieren, hielt sie davon ab, die früh gelernten und so oft verinnerlichten Gedanken loslassen zu wollen. "Nur dieses eine Mal muss es klappen", dachten sie. Der Gedanke, es bliebe doch sonst nicht mehr viel übrig außer Trümmer und Tränen, konnte viele von ihnen für eine lange Zeit schweigen lassen. Traurig leise aber auch verständlich, denn wer will schon Konflikte riskieren, wenn er noch die Möglichkeit dazu hat, sanft betäubt von Frieden und Freiheit träumen zu dürfen?

Der langsame Tod – ohne Beachtung der Zeichen eines kommenden Sturms – wurde von den Meisten bevorzugt, weil sie zu ängstlich geworden waren, um der Welt mitzuteilen, wie sie sich wirklich fühlten. "Mag die Welt mich überhaupt noch, wenn ich ihr die ganze Wahrheit erzähle?", fragten sich viele von ihnen. Die Drogen für die seit dem letzten dunklen Event neu Bevölkerten wurden immer nur sachte aber ständig verstärkt, so dass sie trotz langsam verkommender Intelligenz stets intellektuell – in höchsten Dimensionen schwebend – umherschwafeln und Arbeiten verrichten konnten.

Die hauptsächlich am Hinterkopf und im Nackenbereich "leise" implantierten Nano-Maschinen erzeugten die benötigten Impulse zur Korrektur von auftretender nicht massenkonformer, innerlicher Traurigkeit. Ob Mutti wusste, dass ihr Kind nicht mal ein Smartphone zu besitzen brauchte, um Signale an die Pharma zu senden, bleibt ein Rätsel. Gefragt wurde sie jedenfalls nie. Der Rundfunk schwieg. Keiner wollte schließlich schwere Trümmer riskieren. "Es war alles nur zu unserem Besten gedacht", könnte eine logische Schlussfolgerung gewesen sein.

Viele Jahre zuvor bereits fragten sich die Menschen, wann der Wahnsinn wohl endlich ein Ende finden würde. Die Frage blieb bis jüngst dieselbe, doch der Wahnsinn schien keinen Halt genommen und sich wie eine ansteckende Krankheit bis in den Kern verbreitet zu haben. "Weiß der Autopilot wirklich, wo der Frieden in unseren Herzen zu finden ist? Hätte er nicht schon lange abbiegen müssen?", flüsterten sie. Die Fahrt wurde rasanter und das Flüstern immer lauter – aber nie laut genug, um es als ernste Warnung vernehmen zu können.

Mussten am Ende alle die Folgen erleben, nur weil ein großer Teil der Bewohner den spirituellen Faden und damit die Verbindung zu ihrem wahren Ich verloren hatte? Viele verstanden Spiritualität nur noch als Religion und wurden somit blind für das Wesentliche gemacht. Konnten sie inzwischen überhaupt noch echt sein und gleichzeitig ihre Familien ernähren? Ein System, das Parasiten für die Mehrung von Leid in der Welt belohnte und Übermittler alternativer Ideen – die der Welt hätten helfen können – im Stich ließ, konnte niemals weise genug gewesen sein. Nicht ein jeder wollte die Hoffnung aufgeben und mit der Einstellung "Kaputt sind wir ja sowieso alle, prost!" leben, doch von Jahr zu Jahr wurde es auch für solche Menschen immer schwieriger, genug Kraft für optimistische Gedanken aufzubringen.

Vielen blieb nichts anderes mehr übrig, als ihre Heimat, die sie von Kind an lebten und liebten, endgültig zu verlassen, denn ein Gefühl, das einen von Tag zu Tag mehr erdrückte – eine Gemeinschaft, die anderen vorschrieb, was jeder Einzelne zu denken hat und eine Massenverblödung durch zwangsbezahlte Medien beführwortete - konnte keine gesunde Heimat sein. Viele Menschen stritten sich nur noch über banale Dinge und arbeiteten genau denen zu, die ihnen die Freiheit genommen hatten. Die verabreichten Gesellschaftsdrogen vollführten ihren Zweck und alternative Worte waren leise geworden wie lange nicht zuvor. Sie dachten tatsächlich, eine Teilung in Parteien würde sie menschlich mehr verbinden. Ein so gefährlicher, neuer Führer – diesmal über weit mehr Kanäle gestreut – und viele Leute abonnierten ihn gerne. Selbst der Zwang, gemachte Meinungen bezahlen zu müssen, sollte sie nicht nachdenklich stimmen.

Wie schon einmal hatten sich die Menschen – ausgelöst von den lautesten Quellen – weiter und weiter selbst manipuliert, um recht haben und sich einig sein zu können. Mit vereinter Kraft waren sie gemeinschaftlich voll in die Falle gelaufen und die Spaltung der Gesellschaft war erneut vollbracht. Die gemachte Masse finanzierte unbewusst große Kriege in der Welt und lief für den Frieden erzörnt nur noch kleinen, längst unbedeutenden Gruppen auf der Straße hinterher. Die paar machtlosen Spinner hätten schließlich beinahe die Welt übernommen. Für tiefere Gedankengänge hatte es nicht mehr gereicht und jegliche psychoaktiven Heilmittel, die diese hätten auslösen können, waren längst verboten worden. Nur noch genveränderte, plättende, müdemachende Alternativen wurden an die Straßendealer verteilt. Es war so gut wie nichts mehr echt gewesen, aber selbst das durfte man nur noch leise verkünden.

Vielleicht musste es einfach zu spät gewesen sein, um den falschen Zug endlich verpassen zu dürfen.

Tick, tick, tick...


Wenn sie wieder stirbt,
da die Kälte sie erdrückt,
wenn ihre letzten Blätter wieder fallen,
erst dann schreibe ich ihn auf – den Schmerz.


Sort:  

Mit das beste was ich in letzter Zeit gelesen habe. Ein durchaus realistischer Blick in die Zukunft, dessen dystopische Vision sich sehr nah an der Realität bewegt.

!COFFEEA

Oh ja, mir ist das Geschriebene auch eher eine Beschreibung meiner erlebten Vergangenheit, als dass es Zukunft bedeuten kann. Die Zukunft ist deutlich bunter. Denn die Hoffnung stirbt nie. Ein jeder stirbt erst mit der Hoffnung.

@steemchiller, deinen Worten konnte ich mich nicht lösen. Nicht zu kurz und nicht zu lang, um diesen Moment zu überstehen. Steem on!

!COFFEEA brauche ich jetzt auch.

coffeea Lucky you @indextrader24 here is your COFFEEA, view all your tokens at steem-engine.com Vote for c0ff33a as Witness

Dein Post passt in die Vergangenheit, Gegenwart und wahrscheinlich auch in die Zukunft

Sehr guter Text.
Abgesehen davon, dass ich nicht wüsste wohin in der Welt man noch flüchten kann und mein "Glücksimplantat", in Form von härtesten Psychopharmaka, ohnehin jeden Gedanken von Freiheit im Keim erstickt, hat das voll meinen dystopischen Nerv getroffen 😁

Da gibt es viele Möglichkeiten, schließlich gibt es ca. 200 Länder weltweit! Und bei weitem nicht alle sind solche Shitholes wie Deutschland (und manch andere Länder nicht nur in der EU).

Für Menschen die wirklich etwas anpacken, mag das tatsächlich stimmen.
Heißt jetzt nicht, dass ich es geil finde, mich auf meinem fetten deutschen Arsch auszuruhen... Aber es ist schwierig.

Jeder Einzelne von uns ist ja auch mit vielen Menschen verbunden. Und da sind teils ganz besondere Exemplare dabei! Letztlich lässt es sich meines Erachtens dann ganz gut aushalten, wenn man möglichst viele Anregungen von außerhalb bekommt, um nicht endgültig zu versauern. !invest_vote

Deine lyrische Ader habe ich ja schon mal kennengelernt und nun gelingt dir auch Prosa. Interessante Geschichte, wenn auch nicht besonders positiv.
Vielleicht sind ja gegenwärtig doch noch genügend Menschen ausreichend geerdet und halten die wenigen verbliebenen Seidenfäden im Gesamtnetzwerk Menschheit so fest in der Hand, dass sorgfältig wieder drum herum gewebt werden kann und der falsche Zug für die Zukunft gestoppt wird.
Dann gibt's von dir auch wieder Lyrik ohne Schmerz :-)
LG, Chriddi

ohhh dieser satz: Konnten sie inzwischen überhaupt noch echt sein und gleichzeitig ihre Familien ernähren?
er spricht mir aus der seele. nur fragen sich die wenigsten ehrlich, die auf dem weg zur arbeit sind, was sie dort überhaupt machen. es wird immer schwerer geld zu verdienen und dabei nicht den anstand zu verlieren, auch wenn man nur ein kleines zahnrad ist. am ende trägt man dazu bei, dass die teufelsmaschiene weiterläuft. aber was ist mit der familie?

Solange Familie nur bedeutet, zufällig verwandt zu sein oder sich für eine gemeinsame Bleibe zu entscheiden und dann Verwandtschaft in die Welt zu setzen, ist alles im Lot. Doch wenn Familie wirklich etwas lebhaftes, liebevolles wird, dann kommt die Welt endlich ins Schwanken. !invest_vote

Wow - so schön geschrieben! Und das über eine todernste "Geschichte". (Der Zug wird gegen die Wand gefahren...) Du findest Worte und einen Wortfluss für alle Facetten der momentanen Manipulation ohne "anzuklagen", was die Wirkung deines "schönen" Textes enorm unterstreicht.

Vielleicht musste es einfach zu spät gewesen sein, um den falschen Zug endlich verpassen zu dürfen.

Genial! Danke dir...

Um zu sehen, ob es funktioniert habe ich dir 1 BAT token gesendet. Eine kleine Steem Spende wird es auch noch geben, aber das dauert noch ne Weile. Vielen Dank für deine Arbeit hier.

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Oh fein! Steemworld ist für Brave BAT registriert. Na das soll man mir nicht zwei mal sagen!! Regelmäßiges Trinkgeld ist eingerichtet und ein 10 BAT Tip vorweg schon unterwegs!! !invest_vote

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Diesen Text könnte ich mir gut als einen Vorspann für einen Post apokalyptischen Film vorstellen, so eine Mischung aus 1984 und 2019 :-). Sehr gut geschrieben!

Lieber @steemchiller,
ich mache mir ein Sorgen ... Du schreibst so gut, ob es ueber Dein https://steemworld.org/ Projekt ist, oder Du Deinen Gedanken freien Lauf laesst.
Es ist immer schoen, von Dir zu lesen. Aber in letzter Zeit gibt es da nichts mehr zu lesen oder zum Upvoten. Nicht, dass mein Vote Dir helfen wuerde. Aber ich habe es immer gerne gegeben fuer jemanden, der so viel fuer die Community tut.
Ich hoffe, es geht Dir den Umstaenden entsprechend gut.

Schreibe einfach mal wieder - diesen Post habe ich leider verpasst up zu voten, obwohl er es sicher wert gewesen ist.

Lass von Dir hoeren - die Community (zu der ich mich zaehle) liebt Deine Posts!

Gruesse aus dem Kaeseland.

Mach weiter... wie so :)

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