Die Freie Gesellschaft Teil 2

in #deutsch6 years ago

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Bildquelle: immer noch meine Leseecke

Auf Grundlage meiner Buchvorstellung „Die Freie Gesellschaft“ von Dr. Dietrich Eckardt möchte ich heute vorwiegend den Abschnitt A4 als Leseprobe anbieten.

Vorausgeschickt möchte ich jedoch noch kurz auf einen Begriff im speziellen eingehen, den man mir etwas unüberlegt in Kommentarspalten anderer Artikel, etwas abwertend entgegenwirft. Meisten passiert dass, wenn die Argumentationskette meines Diskussionspartner abreißt und er sich argumentativ in die Enge getrieben fühlt.

Dann werden unüberlegte Begriffe wie „Menschenbild“ das von mir anscheinend verächtlich sei, oder Anarchokapitalist entgegengeworfen.
Das sind scheinbar Totschlag-Begriffe, die vom „Schlagenden“, wenn man (besonders in Bezug zum zweiten Begriff) näher nach der Bedeutung fragt, nicht erklärt werden können. Es scheitert bereits am Begriff „Anarchie“ und dessen verschiedenster Strömungen und es scheitert am Begriff „Kapital“ und dessen umfängliche Bedeutung.

In den meisten Fällen werden diese dazu benutzt, um vom eigentlichen Thema abzulenken, weil man dem Gesprächspartner geistig nicht mehr folgen kann oder nicht will, oder bewusst sein Gegenüber zu diskreditieren, ein schlechtes Bild von seinem Gegenüber auf die Bühne zu bringen.

Ich empfehle daher, nur Begriffe zu verwenden, die man auch nachvollziehbar erklären kann, auch auf die Gefahr hin eventuell eines Besseren belehrt zu werden, oder Aufrichtig genug zu sein, wenn man geistig nicht mehr folgen kann, dies auch zu äußern. Denn es könnte auch sein, dass sein Gegenüber vielleicht versucht seine Erläuterungen verständlicher zu formulieren.
Sollte man nicht geistig folgen wollen, empfehle ich zumindest soviel Aufrichtigkeit an den Tag zu legen, zu bekunden dass man andere Auffassungen nicht gelten lassen will oder sich ganz aus den Diskussionen heraushält.
Wenn man tatsächlich an einem fortschreitenden Gesellschaftsleben interessiert ist, helfen verbale Diskreditierungen nicht wirklich weiter.
Das bedeutet aber auch ertragen zu können, wenn Begriffe fallen, die den Tatsachen entsprechen, wie Mord wenn es Mord ist, Raub wenn es Raub ist und Betrug wenn es Betrug ist, und man muss es sauber und widerspruchsfrei herleiten können.

Aber nun weiter zum Buch „Die freie Gesellschaft“.

Hierzu noch mal zur Erinnerung an meinen vorherigen Beitrag. https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/die-freie-gesellschaft hieraus einen markanten Absatz:

Als Heilmittel zur Begradigung eines als gestört empfundenen Verhältnisses von Ich und Gesellschaft wird immer wieder angeboten: das Weg vom Ich, das Hin zu mehr Gemeinschaft, zu mehr Kollektivität („Sozialität“, „Solidarität“). Das Verdienst, die Vergötterung des Kollektivs und die Verteufelung des seine Freiheit lebenden Ich auf den Punkt gebracht zu haben, gebührt Adolf Hitler: „Du bist nichts; dein Volk ist alles“. Gegen diesen heute noch feste beschworenen Holismus hat es das Ich nicht leicht. Es kann sich nur mühsam Reputation verschaffen. Nur langsam erobert es sich die Bühne gesellschaftstheoretischer Disputation.

Wie diese Reputation analytisch hergeleitet werden kann, und wie das Ich (Ego) zum Du (Alter- Ego) kommt, zeigen die Abschnitte A1 - A3 im Buch.

Ich möchte nur zwei Absätze daraus zitieren, der die Anfänge der Analyse illustriert, der erste Absatz:

Das Ich ist den aufwachsenden Menschen zunächst völlig unbekannt. Wenn sie im Kleinkindalter über ihre Aktivitäten sprechen, sagen sie anstelle von „ich“ ihren Namen: Erna spielt, Egon rennt, Maria weint usw. Irgendwann beginnen sie zu sagen: Ich spiele, ich renne, ich weine. Und sie lernen vor allem zu sagen: „ich will“ und „ich will nicht“! Wir beobachten: Jetzt bezieht das Kind die Geschehnisse ausdrücklich auf sich als seinem ureigensten Spontanzentrum. Vielleicht erlebt das Kind sich schon vorher als Quell seiner Aktivitäten. Aber mit dem Ich-Sagen kommt das Erlebnis der Eigenspontaneität zur Sprache und wird damit symbolisch (als Wort) vergegenständlicht. Das Kind hat fortan sein Ich, sein Ego ausdrücklich und wird zum - - Ego-Isten.
Wer mit dem Wort „Egoismus“ etwas Unvernünftiges oder gar Bösartiges am Menschen benennen will („das Ich, dieser dunkle Despot“), dem bleibt dies unbenommen. Er muss hinnehmen, dass er sich damit vom ursprünglichen Wortsinn arg entfernt hat. Der Sinn des Wortes Egoismus ist schlicht und wertfrei „Ichigkeit“, „Ichgerichtetheit“, „Bei-sich-selbst-sein“ und nicht etwa Übervorteilungssucht, Ellenbogengebrauch oder Ähnliches.

Der zweite Absatz:

Die Hauptvertreter der neueren Hirnforschung wollen davon nichts wissen. Der deutsche Psychologe und Hirnforscher Hans Markowitsch meint (2009): „Der Dualismus [beim Ich; der Verf.] ist passé.“ Der amerikanische Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga, der in seinem Buch „Who’s in charge“ (2011) die Ergebnisse der vergangenen Hirnforschung zusammenfasst, äußert: ein bestimmtes Modul in unserem Hirn schaffe die „Illusion eines Ich“ (Gazzaniga sagt auch: „Wir haben gesehen, dass wir wie Automaten funktionieren“). Hier dokumentiert sich totale Ich-Ferne.
Felix Tretter zeigt, „warum es sich lohnt, das Gehirn einzuschalten, bevor man selbiges erforschen will“, und fragt, „Könnte es sein, dass die Theorie der Neurowissenschaft auf ungenügend durchdachten Annahmen und Konzepten beruht?“ Er bejaht die Frage und folgert, dass die Hirnforscher notwendig aus ihren eindimensional angelegten Versuchen nur eindimensionale Resultate liefern könnten (SPIEGEL, Nr. 9/2014).
Man sollte sich schon mit seinen Aussagen innerhalb der Grenzen bewegen, die durch unsere Erkenntnisvermögen für uns abgesteckt sind. - Natürlich gibt es immer viel zu raten und zu meinen, wenn man, wie bei dem sich als Ich erlebenden Subjekt, den Boden der Sinnesdaten verlassen muss.

Man muss nicht gänzlich die Hirnforschung In-Fage-stellen, diese wäre zudem eine Anmaßung, aber man wird die Frage stellen dürfen/müssen, ob bei der einschlägigen Forschungsarbeit ob der Ergründung „des Gehirns“ auch immer „mit Gehirn“ in allen Bereichen gearbeitet wird.

Nun zu Kapitel A4

A 4 Das Naturrecht – Banner der Freiheit

Die bisherigen Erörterungen hatten zum Ziel, den Begriff des Ich, seine Gesellschaftlichkeit und den Begriff der Freiheit in eine unserem Erkenntnisvermögen gemäße Form zu bringen. (Auf dem vorderen Buchdeckel finden die Leser eine Veranschaulichung des Inhalts der drei Abschnitte A1 bis A 3). Sie stellen eine Art Zurüstung dar für einen Grundsatz, der zum Ausgangspunkt wird für das in diesem Buch darzustellende Konzept freier Gesellschaftlichkeit und die damit zu verbindende Kritik unfreier sozialer Formen.
Man liest die Sätze über die Dualität beim Ich, über die Du-Konstitution und über die gleiche Freiheit aller so leicht dahin. Wir werden sehen, dass sich hinter den darin zum Ausdruck gebrachten Einsichten eine immense Sprengkraft verbirgt.
Aus Abschnitt A 3 ergab sich: Infolge der Ich-Transferation hin zum Du kommt allen Menschen in gleicher Weise Freiheit zu. Die „meta-physische Kollektivierung“ begründet gleiche Freiheit für alle. Die Trilogie Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit wurde aus dem sich selbst erlebenden Ich und seinem gesellschaftsbildenden Willensakt hergeleitet. Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit sind nun nichts anderes als die drei Naturrechtsprinzipien.
Interessant für meine Leser mag sein, dass sich die drei Begriffe bereits bei John Locke (Nachdruck 1977) und in der von Thomas Jefferson verfassten Virginia Bill of Rights (1791, Section 1) als explizit formulierter Naturrechtsgrund vorfinden. Die Prinzipien sind dort zwar nicht klar als solche ausgewiesen und waren wohl auch nicht als solche bewusst. Eine vernunftgerechte Gesellschaft wurde aber offenbar damals schon, um es mit den Worten John Henry Mackays zu sagen, als „der soziale Zustand der gleichen Freiheit aller“ gesehen (1980; s. auch Kurt Zube, 1977).
Nun entwickeln sich bei jedem Ich real die unterschiedlichsten Lebensformen. Jedes Ich entfaltet in der einen oder anderen Weise sein individuelles Leben. Sein Leben entfalten heißt: sich verwirklichen, etwas werden, ein gegebenes Potential realisieren. Hierin sind die Menschen grundverschieden. Dabei so etwas wie „Gleichheit“ und „Allgemeinheit“ ins Spiel bringen zu wollen, widerspricht dem Beobachtbaren. Die konkrete Lebensentfaltung ist Jedermanns ureigene Sache und hat bei Jedem eine andere Form.
Mit der individuellen Lebensentfaltung und den drei Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit haben wir jetzt alle Elemente zur Formulierung eines Grundsatzes beisammen:

Alle haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung

Der Satz umschreibt das Naturrecht des Menschen - in wünschenswerter Kürze und Prägnanz. Er bezieht die Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit auf das physische Leben jedes Einzelnen („Lebensentfaltung“). Deshalb auch die Version: Jeder hat das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung.
Das Naturrecht „materialisiert“ die Rechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit, die sonst – als bloße Prinzipien- von aller Materialisierung frei sind und als solche auch jederzeit frei bleiben müssen. Prinzipien - rein als Prinzipien genommen - sind stets immateriell. Erst in Verbindung mit dem Begriff Lebensentfaltung erscheinen Freiheit, Allgmeinheit und Gleichheit materialisiert, d. h. raumzeitlich präsent. Auf diese Art mit dem Leben verbunden („mit Leben erfüllt“), mit dem also, was wirklich statthat, erhalten sie Fleisch.
Die Naturrechtsprinzipien beziehen sich auf den Menschen sui generis, auf „die Idee der Menschheit in unserem Subjekte“ (Kant). Die Lebensentfaltung hingegen betrifft jeden Einzelnen, und zwar leibhaftig. Sie ist bei jedem anders. Sie richtet sich nach den individuell vorhandenen (ererbten oder selbstgeschaffenen) Ressourcen.
Den Aspekt der menschlichen Lebensentfaltung im Naturrechtsgrundsatz zu verankern, erscheint mir besonders wichtig. Mit dem Begriff Lebensentfaltung ist das wirklich gelebte Leben aller Menschen, also jedes Einzelnen erfasst, und zwar auf allen Stufen seines Werdens: vom Säuglings- bis hin zum Greisenalter. Dieser Vielfalt ist durch den Naturrechtsgrundsatz Freiraum gegeben.
Mit Naturrecht ist jenes Recht gemeint, das „jedem Menschen kraft seiner Menschheit“ (Kant) zukommt. Es ist ein für Alle gleiches Recht. Zu beachten ist, dass sich der Begriff „Gleichheit“ hier auf das Recht bezieht und nicht auf die Lebensentfaltung. Die Nichtbeachtung dieses Umstands hat zu seltsamen Auslassungen und Forderungen geführt.
Es war unerlässlich, dass zu der hier vorgetragenen Fassung des Naturrechtsgrundsatzes und gegen seine unzulässige Interpretation einige diffizile Vorüberlegungen getroffen werden mussten (s. Abschnitt A 1 bis A 3). Dass er aus der Erlebnissphäre des Ich heraus entwickelt wurde, darauf beruht seine - auch intersubjektiv erlebbare - Evidenz.
Mit dem Satz „Alle haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung“ ist das Naturrecht – so weit ich sehe – zum ersten Mal prägnant und für jeden einsichtig formuliert. Das wurde möglich, weil mit den Erörterungen in den Buchabschnitten A 1 bis A 3 ein tragfähiges Fundament dafür gelegt wurde. Der Satz stellt eine bündige Formel dar, die in der Natur des Ich begründet ist und insofern nicht auf bloßer Eingebung beruht. Wegen seiner Kürze ist er einprägsam und leicht zu behalten.
Es ist denkbar, dass in Zukunft eine noch eingängigere Formel für das Naturrecht gefunden wird, eine Formel, in der die jedem einzelnen Menschen gegebene Freiheit noch evidenter ausgesprochen ist. Welche Vorzüge die von mir vorgeschlagene Fassung des Naturrechts hat, zeigt sich bei weiterer Explikation (s. u.).
Das Naturrecht ist das Banner der Freiheit. Es ist dies deshalb, weil die Lebensentfaltung aller menschlichen Individuen von Natur aus erfolgt und weil Freiheit allen in gleicher Weise zugesprochen wird. Die hier gebotene Fassung des Begriffs ist zu unterscheiden vom aristotelisch-thomistischen Naturrechtsbegriff. Dort ist die göttliche Ordnung der Ausgangspunkt, hier das freiheitsbegabte Ich.
Anstelle des soeben formulierten Grundsatzes bietet uns z. B. Johannes Messner, der sich auf die europäische Naturrechtstradition beruft, in seiner sehr umfangreichen Naturrechtsbibel (in der 7. Aufl. 1984 knapp 1400 Seiten!) moralische Imperative. Er zählt auf: „Bewahre Mäßigung, verhalte dich menschenwürdig; tue anderen nicht, was du nicht willst, dass sie dir tun (goldene Regel); gib jedem das Seine (Gerechtigkeit); vergilt nicht Gutes mit Bösem (Dankbarkeit); halte das gegebene Wort (Treue); gehorche der rechtmäßigen Obrigkeit.“ Das sind aber nichts anderes als von Menschen erdachte Imperative für menschliches Verhalten. Sie beruhen auf tradierten „sittlichen Prinzipien“, wie Messner sagt. Sie seien im Gewissen verankert. Den Lesern ist sicher nicht entgangen, dass ich demgegenüber das Naturrecht nicht als Handlungsregulativ, sondern als natürlich vorgegebenes Recht proklamiert habe. Ich habe es aus dem Selbsterleben des Ich entwickelt. Dabei stellten sich einige Probleme, die mit der Beschränkung unseres Erkenntnisvermögens zusammenhängen.
Weil die Naturrechtsprinzipien Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit im Ich begründet sind, ist der Naturrechtsgrundsatz notwendig ichgemäß. Sofern das Du - aufgrund seiner Konstitution (s. Abschnitt A 2) - dem Ich gleich ist, ist er auch dugemäß. Mit dem Grundsatz haben wir eine überaus ich- und dugemäße Rechtsbasis, die zudem „Fleisch“ hat, das heißt, auf das lebendige Sein jedes Einzelnen bezogen ist.
So selbstverständlich uns das Naturrecht nach seiner Bewusstmachung auch erscheinen mag, so unerkannt bestimmte es vorher schon unsere Existenz. Das Naturrecht wird vom Menschen unbewusst gelebt, ohne dass es dazu einer tiefergehenden Reflexion bedarf. Unserem naiven Dahinleben kommt das Erfordernis eines solchen „Rechts“ erst zu Bewusstsein, wenn wir in unserem Lebensmöglichkeiten behindert sind: in Gefangenschaft, bei Unterdrückung oder bei unmäßiger Gängelei.
Walter Lippmann spricht in seinem umfangeichen Freiheitswerk von einem „Leitgesetz“. „Die Überzeugung, dass es ein Leitgesetz gibt, das über allen geschriebenen Gesetzen, Verordnungen und Bräuchen steht, findet sich bei allen Kulturvölkern. Sie entspringt einer undeutlichen intuitiven Wahrnehmung. Immer wieder schenken die Menschen dieser Intuition ihre Aufmerksamkeit, um sie wieder zu vergessen und erneut auf ihre Entdeckung und ihren Besitz auszugehen. Seit mindestens 25 Jahrhunderten mühen sich die Menschen um ihre Formulierung. Sie haben ihr auf tausend Arten Ausdruck gegeben. Sie haben über sie diskutiert, seitdem sie überhaupt über allgemeine Ideen zu diskutieren gelernt haben. Für gewöhnlich bestritten die Herrschenden die Idee des Leitgesetzes, wogegen die Untertanen sie anriefen…Wenn man fragt, wo dieses Leitgesetz zu finden sei, dann lautet die Antwort, dass es einer allmählich sich vollziehenden Entdeckung von Menschen, die sich zu zivilisieren bestrebt sind, zu verdanken ist, und dass sich Inhalt und Rahmen erst allmählich enthüllen, eine Entwicklung, die noch lange nicht abgeschlossen ist“ (1936).
Lippmann bemerkt ganz richtig, dass dieses „Leitgesetz“, so undeutlich es sich auch bisher zum Ausdruck bringen konnte, stets das Grundmotiv für den Kampf gegen jegliche Form von Unterdrückung gewesen sei. Zu Zeiten Lippmanns war – wie er selbst sagt - noch keine klare und deutliche Formulierung des von ihm sogenannten „Gesetzes“ bekannt.
Wie auch immer der Inhalt eines solchen Leitgesetzes künftig formuliert sein mag, es muss sich auf die drei Naturrechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit beziehen und auf die konkrete Lebensentfaltung eines jeden. Dann wird es ein Schlachtruf gegen jede Form von Unterdrückung sein können. Bleibt es im Dunkeln, wird sich stets eine Gruppe von Menschen finden, die sich über ihre Mitmenschen als Obrigkeit erhebt und die den „einfachen Mann auf der Straße“ zu leiten und zu führen beansprucht - - und ihn ausbeutet und drangsaliert (s. Abschnitte B 1.3, B 2.6 und B 3 f).
Die hier gewählte Formulierung des Naturrechtsgrundsatzes hat nicht nur den Vorteil, dass wir diesbezüglich auf bloße Eingebungen verzichten können. Der Grundsatz impliziert weitere Sätze. Er lässt eine Fülle von Ableitungen zu, die alle Naturrecht aussagen. Die Klasse der aus dem Naturrechtsgrundsatz ableitbaren Sätze ist nahezu unendlich. Sie hat den großen Umfang deshalb, weil der Begriff Lebensentfaltung überaus reichhaltig ist und sich deshalb eine Menge Schlussketten aus dem Naturrechtsgrundsatz bilden lassen.
Man kann aus dem Begriff Lebensentfaltung beliebige Entfaltungsmöglichkeiten ausgliedern und auf dem Weg analytischer Urteile a priori Zweitprämissen bilden. Die bringen - mit dem Naturrechtsgrundsatz als Erstprämisse – eine reichhaltige Klasse von Konklusionen hervor. Auf diese Weise lassen sich aus dem Naturrecht - auf formallogischem Wege (per Syllogismus) - viele lebensnahe Rechte ableiten. Die lassen ihrerseits Ableitungen zu, die Ableitungen unter Umständen auch wieder und so fort. Weil sie alle Konkretisierungen des Begriffs „Lebensentfaltung“ sind, haben sie immer einen direkten Bezug zum Leben des Menschen.
Der Naturrechtsgrundsatz gesteht zum Beispiel allen in gleicher Weise das Recht der freien Religionsausübung zu, das Recht auf freie Vereinigung und Versammlung, das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf freie Verfügung über ihr Eigentum, das Recht der freien Berufwahl, das Recht der freien Meinungsäußerung, das Recht, gegen Unrecht zu klagen, das Recht darüber, wem man seine Geheimnisse anvertrauen will und noch vieles Andere mehr. Die Konklusionen aus den jeweiligen Syllogismen würden dann lauten: „Alle haben das gleiche Recht auf freie Religionsausübung“; „Alle haben das gleiche Recht auf Freizügigkeit“; „Alle haben das gleiche Recht auf freie Vereinigung“, auf freie Meinungsäußerung usw., usf. Aus diesen Sätzen geht hervor, dass der Begriff der Gleichheit stets nur in Verbindung mit dem Begriff „Recht“ steht, nirgends aber in Verbindung mit dem Begriff „Lebensentfaltung“, ein - wie bereits oben betont - ganz wichtiger Punkt für das menschliche Zusammenleben!
Die soeben genannten Rechte sind Derivate des Naturrechts. Eine Teilklasse dieser Derivate sind die sogenannten „Menschenrechte“. Mir ist kein Menschenrecht bekannt, dessen Kernaussage sich nicht aus dem oben ausgesagten Naturrecht ableiten ließe, so verklausuliert es dessen Proklamatoren auch formuliert haben mögen (Dabei ist zu berücksichtigen, dass die berühmte Menschenrechts-Charta nicht nur Naturrechte enthält. Sie ist ein Konglomerat von Rechten, Pflichten, Verboten, Ansprüchen usw. Die im eigentlichen Sinne als „Menschenrecht“ zu bezeichnenden Aussagen machen im Text der Charta nur einen beschränkten Teil aus.)
Will man den Vorwurf von den Menschenrechten fernhalten, sie seien nur Fiktion und bloßer Etikettenschwindel, muss man sich über die Wesensart des sie begründenden Naturrechts Klarheit verschaffen. Dies ist insbesondere deshalb geboten, weil das von seinen historischen Verzerrungen gereinigte Naturrecht die Basis abgibt für alle weiteren Erörterungen und Thesen der vorliegenden Schrift.
Weil der Naturrechtsgrundsatz Ableitungen in vielerlei Richtungen zulässt, kann er mit Fug und Recht als Axiom bezeichnet werden. Dieses Axiom mag in keinem Gesetzbuch der Welt genannt sein. Innerhalb der Freien Gesellschaft ist es dennoch der Grund für alle dem Menschen von Natur zustehenden Rechte. Es ist also ein Grundrecht (Axiom). Die gewöhnlich ebenfalls als „Grundrechte“ benannten Rechte – allen voran die sog. Menschenrechte, sind nur Derivate dieses einen Grundrechts.
Der provokanten Art des Max Stirner verdanken wir die bissige Bemerkung: „Was nützt den Schafen, dass ihnen niemand die Redefreiheit verkürzt? Sie bleiben beim Blöken“ (Nachdruck 1972). Er brandmarkt damit die euphorische Ideologisierung der Menschenrechte. Deren Inhalt ist für jeden, der des Schlussfolgerns mächtig ist, aus dem oben formulierten Grundsatz problemlos zu eruieren.
Auch wenn ein Individuum eines der Rechte nicht zur eigenen Lebensentfaltung nutzt oder nutzen kann, das Naturrecht büßt dadurch seine Bedeutung für das individuelle Leben in einer freien Gesellschaft nicht ein.
Der Vorteil der allgemeinen Fassung des Naturrechts ist, dass man sich die Aufschlüsselung bis in kleinste Details ersparen kann. Man benötigt nur einen Satz – als Fundamentalsatz für das gesamte Naturrechtswesen. Trotz der Vielzahl der Naturrechtsderivate gibt es im Grunde nur dieses eine oben formulierte Menschenrecht. Kant wäre nicht Kant, wenn er das nicht bemerkt hätte. So ist in seinen Schriften vom Menschenrecht immer nur im Singular die Rede (Martin Kriele, 1988).
Die Hauptformen der Lebensentfaltung des Menschen sind das Wachstum, das Handeln und das Reden. Insofern sind die wichtigsten Derivate aus dem Naturrecht die Wachstumsfreiheit (welche die Bildungsfreiheit einschließt), die Handlungsfreiheit (welche die Vertragsfreiheit einschließt) und die Redefreiheit (welche die Pressefreiheit einschließt, also die Freiheit, Schriften allen Inhalts zu publizieren). Als Ableitungen aus dem Naturrecht sind sie ebenfalls Naturrechte.
Das Auffallende an dem Naturrechtsaxiom ist, dass es nur Elemente aus der wirklich gelebten Welt des Menschen enthält. Sein Inhalt tangiert die beiden Erlebnissphären des Immateriellen und des Materiellen: die drei Rechtsprinzipien Allgemeinheit, Gleichheit und Freiheit (immateriell) einerseits und die Lebensentfaltung (materiell) andererseits. Insofern sind das Naturrechtsaxiom und dessen Derivate nicht nur der menschlichen Natur entnommen, sondern auch dort fundiert. Sie sind nicht „im Gedankenexperiment nachkonstruiert“, wie die fünf „Arten von Grundrechten“, die z. B. Jürgen Habermas meinte erfinden zu müssen (1998).
Bei der Herleitung des Naturrechts zahlt sich aus, dass wir oben die Themen „Zwei Daseinsweisen des Ich“ (s. Abschnitt A 1), „Gesellschaftlichkeit des Ich“ (s. Abschnitt A 2) und „Freiheit des Ich und Freiheit des Du“ (s. Abschnitt A 3) etwas tiefer und radikaler angegangen sind als üblich.
Um die Rolle des Naturrechts für die gesellschaftliche Existenz des Menschen gänzlich durchsichtig zu machen, muss auf ein Problem aufmerksam gemacht werden, das spätestens bei der Auffächerung des Naturrechts in seine Derivate entsteht. Stellt man diese nebeneinander, dann findet man schnell, dass die Rechte des einen Ich mit den Rechten des anderen Ich kollidieren.
Es gilt zwar für jedes Ich das Naturrecht. Aber das Naturrecht des einen schränkt das Naturrecht des anderen ein oder vernichtet dieses sogar. So kann z. B. dem Recht auf Wohnfreiheit das Recht auf Freizügigkeit widerstreben. Wo ein Wohnplatz bereits besetzt ist, kann man nicht ohne Weiteres hinziehen, um sich dort selbst einen Wohnplatz zu schaffen. Man müsste sich diesen gegen den Erstbesitzer erkämpfen. Dem Recht auf Freizügigkeit von Menschen ist damit eine Grenze gesetzt. Ein anderes Beispiel ist das Recht auf Meinungsfreiheit, dem Persönlichkeitsrechte („Integrität“) im Wege stehen können.
Bei der Nutzung von Rechten, die Naturrechtsderivate sind, entstehen offensichtlich Konflikte. Verfolgt man diese Merkwürdigkeit bis auf ihrem Ursprung zurück, dann zeigt sich, dass Konflikte der soeben beschriebenen Art bereits im Naturrecht selbst angelegt sind. Sie sind insofern Systemkonflikte. Das für alle gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung ist zugleich die Negation des für alle gleichen Rechts auf freie Lebensentfaltung. Das Naturgesetz der Freiheit ist doppelgesichtig, janusköpfig. Woran liegt das?
In dem Naturrechtsgrundsatz ist nicht nur die Freiheit, sondern auch die Gleichheit aller ausgesagt. Weil allen die gleiche Freiheit zugesprochen wird, liegt darin bereits das Gegeneinander der Freiheit des Einen gegen die des Anderen. Ich steht gegen Ich, Wille gegen Wille. Die geforderte Gleichheit bremst - in Verein mit der gleichfalls geforderten Allgemeinheit - die Freiheit beider.
Der Garant der Freiheit des Ich birgt - mit den Prinzipien der Allgemeinheit und der Gleichheit - auch die Bändigung der persönlichen Freiheit in sich. Die in dem Naturrecht gebotene Gleichheit und Allgemeinheit verweisen die im selben Recht gebotene Freiheit in ihre Schranken. Meine Rechtlichkeit muss - dem Freiheitsprinzip gemäß – möglichst uneingeschränkt sein. Sie sollte aber auch - dem Gleichheits- und dem Allgemeinheitsprinzip gemäß - dem Recht eines Anderen Raum geben, und das bedeutet Einschränkung.
Daraus ergibt sich: Bei aller Bedeutung des Naturrechtsgrundsatzes als Banner der Freiheit und bei aller Wirkkraft als Schlachtruf gegen jede Form von Unterdrückung - das Naturrecht und seine Derivate schaffen aus sich selbst heraus keinen Frieden. Sie bringen niemanden davon ab, der Wolf eines anderen Wolfes (Thomas Hobbes) zu sein. Das Naturrecht beseitigt den Krieg aller gegen alle nicht.
Vor allem diejenigen, welche die „Menschenrechte“ vollmundig proklamieren und sich davon das Heil der Menschheit versprechen, scheinen an diesem Punkt völlig ahnungslos zu sein. Das Naturrecht und alle seine Derivate fordern lediglich, was jedem Menschen kraft seiner Menschennatur zusteht, nämlich Freiheit. Dass es (und die aus ihm ableitbaren Menschenrechte) Frieden unter den Menschen schaffen könnte, ist eine völlig absurde Vorstellung.
Die Natur- und Menschenrechtsfreunde befinden sich in einem beachtlichen Dilemma. Das Dilemma ist im Naturrecht selbst begründet. Deshalb lässt es sich nicht beseitigen, ohne das Naturrecht selbst zu beseitigen. Das will aber niemand. Denn das Naturrecht ist unser Lebenselixier. - Nun hat die Menschheit schon seit geraumer Zeit einen Weg gefunden, dem Dilemma zu entrinnen bzw. mit ihm vernunftgerecht umzugehen: die Herausbildung eines ganz andersartigen Rechts, das neben dem Naturrecht besteht, ohne es zu ersetzen bzw. zu verdrängen. Dieses Recht nennt man aufgrund seiner Entstehungsart „statuarisches Recht“. Auf das statuarische Recht ist in den Abschnitten B 2.3 ff und B 2.4 ff ausführlich zurückzukommen.

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