Der Fliederbaum

in #german6 years ago (edited)

Eines Tages hatte sie sich entschieden. Sie wusste, dass sie sich nun aufmachen musste. Hastig suchte sie ihre Sachen zusammen und steckte sie in ihre Tasche. „Eines Tages werde ich zurückkehren und Malika mitnehmen!“ dachte sie.
Die Sonne stand bereits tief, geblendet vom gleißenden Licht schaute sie in Richtung Horizont. Die großen Glasfassaden der Hochhäuser warfen sich das Licht gegenseitig zu. Wie aus Granit geschliffen leuchteten sie im Sonnenlicht. Schwülwarmer Wind trieb ihr den trockenen Sand in die Augen und in den Mund. Sie biss die Zähne zusammen das es knirschte. Der Weg führte sie nun zum letzten mal an der langen, grauen Mauer vorbei. Vor einem kleinen Eingang hielt sie und blickte hinein. Das Bett ihrer Freundin war unbenutzt. Rasch zog sie ihre Tasche vom Rücken und wühlte in ihren Sachen herum. Sie besaß nicht viel, trotzdem wollte sich das kleine Ding nicht finden lassen. Plötzlich fand sie es und zog es heraus. Es war ein kleines Foto einer Sofortbildkamera. Es zeigte eine grüne Wiese und einen Fliederbaum. Schnell legte sie das Foto unter das Kopfkissen und schloss die Lederriemen ihrer Tasche. Unter ihren Schuhen knirschten die kleinen Steine auf dem Absatz. Schnellen Schrittes ging sie über den Hof in Richtung Tor. Dort angekommen blickte sie sich ein letztes mal um und schaute auf die vielen Gebäude und Baracken. Gepackt vom Augenblick kletterte sie über das Tor und sprang auf den gepflasterten Fußweg. Nun begann sie zu laufen, an dem langen Zaun entlang zum Fluss hinunter. Trotz den Schmerzen in ihrer Hüfte warf sie ein Bein vor das andere und erreichte wenige Minuten später das Flussufer. Wie immer war das Wasser grau und stank entsetzlich nach Lösungsmittel. Sie mochte ihn trotzdem, denn der Fluss konnte nichts für seine abstoßende Erscheinung.

„Steig schon ein!“ sagte er, „Kannst du mich für die Fahrt bezahlen?“ „Ja ich habe genug Geld dabei“ sagte sie schnell und schaute zu dem Mann am Steuer hinüber. Er musterte sie gründlich, blickte an ihr auf und ab bis sein Blick an ihrem Oberkörper hängen blieb. „Es wäre kein Problem wenn du dir das Geld lieber sparen willst...“ begann er. „Nein, ich bezahle Sie!“ schoss es abermals aus ihrem Mund. „Das kostet dich 300“, „kein Problem, ich habe das Geld!“ Sie wusste, dass er sich den Gegenwert für das Benzin lieber auf anderem Wege besorgt hätte, etwas anderes war sie von den Männern im Kasino auch nicht gewohnt. Aber das war jetzt ihr Leben und von nun an sollte Schluss sein damit. Der LKW knatterte los und schob sich auf der Straße in Richtung Autobahn. Sie war froh nicht mehr durch die Stadt fahren zu müssen, vorbei an ihren Zahlreichen „Arbeitsplätzen“.
Ob es Männer gibt, die anders sind? Fragte sie sich wieder in diesem Moment. Drüben wird es welche geben, da war sie sich zwar sicher, konnte sich eine solche Situation jedoch nur schemenhaft vorstellen. „Wie lange wird es dauern?“ fragte sie und schaute abermals auf den Mann am Steuer. „Fünf Stunden wirst schon durchhalten müssen“ murmelte er und grinste sie an. „An der Grenze springst du raus und gehst selber rüber! Und pass auf wer dich sieht, die Russen machen sonst auch eine Jìnǚ aus dir!“ „Ist schon oke“ sagte sie und drehte sich ungläubig zum Fenster. Die Sonne war nur noch ein kleiner, heller Bogen am Horizont und die Tower schrumpften immer mehr in sich zusammen. Am liebsten hätte sie die Business Gebäude und Spielhallen abgerissen, alles verbrannt, ausgelöscht, vernichtet und für immer von der Welt gejagt. „Diese Menschen werden irgendwann begreifen was sie tun!“ Das sagte ihre Mutter immer wenn sie Abends in die Baracke kam.
Plötzlich wurde sie wachgeschüttelt, der LKW rumpelte durch ein Schlagloch und blieb am Straßenrand stehen. Geschützt unter den Ästen eines großen Baumes schaltete der Mann den Motor ab und zog den Zündschlüssel aus dem Schloss. Es gab ein lautes „Klack“ von sich und im gleichen Moment warf er den Schlüssel auf das Armaturenbrett. „Wir sind da!“ sagte er bestimmt. „Willst es dir nochmal überlegen mit dem Geld? Es wäre doch nichts neues für dich.“ „Nein, danke!“ sagte sie und kramte aus der Tasche auf ihrem Schoß eine Blechbüchse mit einer Geldrolle hervor. Sie nahm einige Scheine und warf sie ebenfalls auf das Armaturenbrett. Erleichtert schaute sie noch einmal zu dem Mann am Steuer hinüber. „Danke fürs Geschäft“ sagte sie und zog am Türöffner des LKW. Sie sprang hinaus und landete mit beiden Füßen auf dem Gehweg. Plötzlich hatte sie ein Déjà-vu und ihre Gedanken waren wieder bei Malika. In diesem Moment machte sie sich vermutlich fertig für das „Abendgeschäft“.
Dann startete der Mann den LKW, eine schwarze Rauchsäule stieg aus dem verrosteten Auspuff empor. Unter kräftigem husten schaute sie ihm zu wie er wendete und in der Richtung von der sie gekommen waren verschwand. Nun war sie wieder auf sich alleine gestellt. Mit der Tasche auf dem Rücken ging sie nun in Richtung Grenze. Es musste die Grenze sein, denn über einem kleinen Kontrollhäuschen wehte eine Flagge in den Farben Weiß, Blau, Rot. Da sie wusste, dass die Flagge ihres Landes goldene Sterne auf rotem Grund zeigte, musste das auf der anderen Seite Russland sein. „Nimm den Grenzübergang zwischen Kasachstan und der Mongolei!“ hatte ihr damals jemand gesagt. Das tat sie nun. Mit dem restlichen Geld musste sie jetzt versuchen jemanden zu bestechen, denn über die Grenze konnte sie nicht auf legalem Wege gelangen. Abermals kramte sie ihre Dose hervor und rollte das Geldbündel auseinander.
Nachdem sie knapp 1000 ¥ in Rubel getauscht hatte, ging sie auf eine Gruppe Männer zu, die rauchend am Straßenrand standen. In der Hosentasche hatte sie einen Zettel, auf dem stand: „Я хочу пересечь границу“ - „Ich möchte über die Grenze“. Dieser Satz musste reichen um sie auf russischen Boden zu bringen. Ihre Schritte wurden langsamer, zögerlich holte sie den Zettel hervor und schlenderte wie beiläufig über den Gehsteig. Gerade als einer der Männer seine Zigarettenkippe auf die Straße schnippte, streckte sie ihren Arm aus und hielt ihm den Zettel hin. „Посмотри на это!“ Sagte der Mann und lachte, deutete dabei auf sie und schaute mit einem breiten Grinsen auf ihren Körper. „Мы берем его с собой!“ Sagte der ältere Mann neben ihm. Er hatte weißes, lichtes Haar und große Ohren. „Seltsame Männer“ dachte sie. Um ihnen klar zu machen, dass sie keine Papiere hatte, holte sie nun das gewechselte Geld hervor. Sie schaute den ersten Mann an und deutete auf die Geldscheine. „Please!“ sagte sie leise. „Да, да, пойдем со мной!“ Wieder hatte sich der Weißhaarige zu Wort gemeldet. Die anderen beiden warfen nun auch ihre Kippen weg und gingen auf einen Kleinbus am Straßenrand zu. „Давай!“ rief der erste laut. Wortlos steckte sie das Geld in die Hosentasche und folgte den Männern zum Fahrzeug. Dort angekommen begannen sie sich wild gestikulierend zu unterhalten. Der weißhaarige öffnete die Schiebetür, stieg ein und setzte sich auf die Ledersitzbank. Ein starker Zigarettengestank kam ihr entgegen als sie ein anderen hinterher ins Auto schob. Bei der Berührung lief es ihr kalt den Rücken herunter und am liebsten hätte sie sich losgerissen und wäre davongelaufen. Weg von diesen Männern und weg von sich selbst.
Mit einem Schubs saß sie auf dem Ledersitz und klammerte sich an ihre Tasche die sie nun schützend vor sich aufbaute. Sie kniff die Augen zusammen und schaute zu wie jeder den Bus betrat und Platz nahm. Vorsichtig musterte sie die Männer. Alle trugen ausgewaschene Jacken und dunkle Stoffhosen. Der Weißhaarige trug verdreckte Stiefel die er nun sorgfältig am unteren Ende der Sitzbank abwischte. Der erste stieg plötzlich zwischen den Vordersitzen hindurch und ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Laut hustend kramte er in der Hosentasche bis er das klimpern des Schlüsselbundes vernahm. Hastig holte er ihn heraus und stocherte ohne hinzusehen nach dem Zündschloss. Ein anderer griff in das Gepäcknetz auf der Rückseite des Sitzes und holte eine etikettlose Plastikflasche hervor. Auffordernd streckte er sie vor ihr Gesicht. „Пить!“ sagte er. Reflexartig schüttelte sie den Kopf. Lachend zog er sein Angebot zurück und nahm selbst einen großen Schluck. Im selben Moment konnte sie einen starken Alkoholgeruch wahrnehmen der aus der Richtung des trinkenden Mannes kam. Als er die Flasche verschloss startete der erste Mann den Kleinbus und sie setzten sich ruckartig in Bewegung. Schnaufend drehte der Fahrer am Lenkrad und wendete das Fahrzeug. Ihren Oberkörper geschützt saß sie da und wartete darauf, dass sie sich dem Grenzübergang näherten.

„Привет“ sagte er zu dem Mann mit Mütze, der am Schlagbaum stand. Er nickte, der Fahrer streckte seinen Arm aus und übergab dem anderen etwas. Dann machte er den Weg frei und sie passierten die Grenze. Sie hob den Kopf und schaute dem Mann mit Mütze durch das dreckige Fenster ins Gesicht, auch er grinste sie an als er sich das Erhaltene in die Brusttasche steckte.
„Please stop now“, sagte sie einige Minuten später, als die Grenze außer Sichtweite war.

By Jojp

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