Das Wartezimmer

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Es ist wahr: Sobald man im Wartezimmer sitzt sind die Zahnschmerzen wie weggeblasen. Ich lasse es dahingestellt, ob dieser psychologische Effekt den Fluchtinstinkt fördern soll. Sicher weiß ich nur, dass ich mich nicht aus Angst vor der Behandlung als solche davongeschlichen habe.

Es war alles vorhanden was man erwartet. Der Stapel Zeitungen für die Zerstreuung, ein Flachbildschirm an der Wand, auf dem Werbung für Medikamente lief, eine Spielecke für Kinder, die üblichen Bilder an den Wänden und reichlich Sitzgelegenheiten für Patienten. Ein sauberes Wartezimmer, aufgeräumt und nüchtern.

Gedränge herrschte nicht. Im Gegenteil. Außer mir befanden sich nur fünf weitere Patienten im Wartezimmer des Zähnereißers. Das war in diesen Zeiten nichts Besonderes. Man ließ der höllischen Infektionsgefahr wegen nur wenige Patienten herein.

Direkt mir gegenüber saß eine junge Frau mit schlanken, langen Beinen. Der Figur nach war sie recht ansehnlich. Schöne Augen schien sie auch zu haben. Der Rest ihres Gesichts war vom FFP2-Mundschutz verborgen.
Die Männer kümmerten mich nicht und die andere Frau kam, gemessen an ihrem fortgeschrittenen Alter, wohl eher ihrer Gebissprothese wegen.

Man starrte vor sich hin und blätterte durch Zeitungen. Dann und wann ein Seufzen.
Die Arzthelferin hinter der Theke zog sich den BH zurecht. Eine schläfrige Stimmung.
Es ging mir durch den Kopf, dass das Geschäft des Zahnarztes in früheren Zeiten von Scharfrichtern erledigt wurde. Vielleicht hatte dieser historische Aspekt etwas mit dem Verschwinden der Schmerzen zu tun. Ich spielte schon mit dem Gedanken die anderen Herrschaften über diese morbide Kuriosität zu unterrichten, unterließ es dann aber. Stattdessen schmunzelte ich in mich hinein.

Plötzlich durchbrach ein Schrei die vornehme Stille des Wartezimmers. Es war nicht der Ausdruck von Schmerzen, wie man ihn aus dem Behandlungszimmer hätte erwarten können. Dieser Schrei kam von der Straße.
Alle Patienten blickten mit großen Augen zum Fenster.

Noch einmal rief jemand von der Straße. Und dieses Mal verstand ich die beiden Worte.

„Herr Winklaaa…!“

Die Patienten, und ich will mich da nicht ausnehmen, sahen sich verblüfft an. Der Zahnarzt hieß Mustermann, nicht Winkler.
Die Arzthelferin schüttelte den Kopf und es war mir, als huschte eine Spur von Besorgnis über ihr Gesicht.

„Herr Winklaaa…!“, tönte es von der Straße.

In diesem Moment flog die Tür zum Behandlungszimmer auf. Doktor Mustermann riss sich die Atemschutzmaske vom Gesicht und eilte mit festen Schritten quer durch seine Praxis hinaus auf die Straße. Und nun ging das Geschrei erst richtig los.

Es war wohl so, dass schon eine ganze Weile immer wieder irgendwelche Passanten vor dem Anwesen des Doktor Mustermann stehen blieben, sich das Gebäude ansahen, und nach einem Herrn Winkler riefen. Da jedoch niemand dieses Namens hier lebte oder gar als Arzt praktizierte, erschien die Sache zunächst als Irrtum.
Dessen ungeachtet nahm Doktor Mustermann dieses Phänomen nicht leichtfertig hin. Ja, er hatte mit diesen Pilgern bereits seine Erfahrungen gesammelt.

Dem Wortgefecht nach, das sich direkt vor der Gartentür der hübschen Praxis abspielte, ging es zum einen um die Grundstücksgrenze. Die Pilger wussten gut, wo diese gelegen war, und belehrten Doktor Mustermann, dass sie hier auf öffentlichem Grund stünden und dies schließlich keineswegs verboten sei. Zum anderen betonten die Pilger ihre Friedfertigkeit sowie den Umstand seines völlig anderen Namens. Doktor Mustermann brauchte sich also nicht angesprochen fühlen, wenn jemand nach einem imaginären Herrn Winkler rufe.

Der Disput nahm seitens des Herrn Doktors deutlich an Lautstärke zu. „Ihr baut hier Scheiße! Ich bin nicht derjenige!“, brüllte er gerade heraus.

Die Pilger antworteten mit hysterischem Lachen.

Ich muss zugeben, dass ich die Situation in diesem Moment noch nicht einzuordnen vermochte. Das Verhalten des Doktors entsprach in jedem Fall nicht meinen Erwartungen. Anstelle beherrschter Seriosität, wie man sie von einem Akademiker erwarten sollte, verlor der Herr Doktor die Nerven.

Im Wartezimmer verfolgte man die Geschehnisse mit betretener Neugier. Die junge Frau, die mir mit übereinander geschlagenen Beinen gegenüber saß, wandte sich mir zu. „Die rufen doch hier alle halbe Stunde nach dem Winkler.“, flüsterte sie.
„Und warum? Wohnt denn einer hier der so heißt?“, antwortete ich ebenso leise.
„Nein. Er…“, und sie blickte dabei in Richtung Behandlungszimmer, „…zwingt seine Belegschaft sich impfen zu lassen. Und jetzt wird er Drachenlordisiert.“
„Er wird was?“, erwiderte ich verdutzt.
„Na sie machen mit ihm dasselbe, wie mit dem Rainer Winkler. Der nennt sich doch Drachenlord.“

Langsam dämmerte es mir. Gewalt bedeutet nicht zwangsläufig jemandem das Jochbein zu brechen.

„Und was bezwecken die damit?“, fragte ich.
„Die wollen, dass er seine Praxis schließt.“, murmelte der Mann neben mir.
Die langbeinige junge Frau schüttelte den Kopf. „Soweit ich es verstanden habe, soll er nur auf seinen privaten Impfzwang verzichten.“

Während man im Wartezimmer das Für und Wider der Aktion erörterte, wobei sich herausstellte, dass die einen dafür, die anderen dagegen und wieder andere keine Ahnung vom Impfen hatten, fuhr draußen ein Streifenwagen vor. Die Pilger blieben ruhig, nahmen den Platzverweis der Polizisten stoisch hin.
Doktor Mustermann indes zeigte sich ungehalten. Seinem Dafürhalten nach stopften sich die Polizisten den ganzen Tag mit Donuts voll und wenn man sie brauchte, so kämen sie entweder zu spät oder gar nicht.

Allem Anschein nach war es einer ganzen Menge von Mitbürgern zur zweiten Natur geworden, ohne medizinische Notwendigkeit der Praxis des Zahnarztes einen Besuch abzustatten und dabei nach Herrn Winkler zu rufen. Ja, mittlerweile war Doktor Mustermann sogar für sich selbst Herr Winkler.

Nach diesem Intermezzo verliefen die weiteren Behandlungen lustlos und schleppend. Der ältere Mann, der vor mir an der Reihe war sich die Zähne richten zu lassen, verließ die Praxis wutschnaubend.
An der Theke vor der Arzthelferin baute er sich auf. „Wissen sie, was ihr feiner Herr Doktor zu mir gesagt hat? Ich soll mein Maul nicht soweit aufreißen! Das sagt er zu einem Patienten mit Loch im Backenzahn!“ Zeternd und wild gestikulierend verließ er die Praxis, vergaß aber nicht zu bemerken, dass jeder Arzt, der seine Belegschaft zur Impfung zwinge, ohnedies ein freischwebendes Arschloch sei.

Die Arzthelferin zuckte mit den Schultern. Es war wie in Vietnam: Irgendwann ist einem völlig gleichgültig was geschieht, Hauptsache der eigene Arsch ist aus der Schusslinie.

„Der Nächste bitte!“

Nun war die Langbeinige an der Reihe. Für nichts auf der Welt hätte ich jetzt mit ihr getauscht. Die nackte Angst stand in ihren Augen, als sie das hell erleuchtete Behandlungszimmer betrat.

Nein, ich wollte nicht warten, bis die Arzthelferin sagte: „Dead man walking…!“ Und da meine Zahnschmerzen auf wundersame Weise verflogen waren, nutzte ich die Gelegenheit zur Flucht.

Draußen vor der Praxis atmete ich tief durch. Die Straßenlaternen blinkten in der Abenddämmerung. Es war der richtige Moment für eine Zigarette und der falsche mit dem Rauchen aufzuhören. Das Licht des Feuerzeugs erhellte mein Marlboro-Lächeln.

Neben mir hielt ein Auto. Es war ein unscheinbarer, dunkler Wagen ohne Schnickschnack. Fensterheber surrten, grinsende Gesichter kamen zum Vorschein. Und dann riefen sie: „Herr Winklaaa…!“

Ich wollte nicht gesehen werden; nicht vor dieser Praxis; nicht als potentieller Patient, nicht als – Boykottbrecher. So ging ich unbeteiligt meines Weges.

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