Funktionieren und Selbstüberforderung : Überschreiten des zulässigen Lebens-Tempos

in #adhs6 years ago (edited)

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Wenn Funktionieren eigentlich die Selbstüberholung ist

Mein Leben war wie eine Langspielplatte, die auf Single-Geschwindigkeit abgespielt wurde. Mit 5 mg Methylphenidat ist die Geschwindigkeit viel langsamer, ganz normal.

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Das hat eben gerade eine meiner Patientinnen hier in der Klinik erkannt.

Sie hat ihr bisheriges Leben "funktioniert". Gut funktioniert. Übermässig gut funktioniert. Besonders für Andere. Gäbe es eine Geschwindigkeits-Kontrolle für uns Menschen, wie wir durch unser Leben fahren, so hätte sie die zulässige (gesunde) Geschwindigkeit weit überschritten. Musste sie ja. Wollte sie ja. Konnte sie ja.

Ihre innere Kamera der Selbst- und Fremdwahrnehmung war ganz auf Andere gerichtet. Sie hat die Bedürfnisse von anderen Menschen erfüllt. Übererfüllt. Und sich selbst dabei gar nicht mehr wahrnehmen können. Wahrnehmen dürfen. Aber auch nicht wahrnehmen wollen.

Es funktionierte ja. Sie funktionierte ja.

Funktionieren heisst nicht, dass es funktioniert

Letztlich ist es keine Kunst, sich selber zu überfordern. Das können die meisten meiner Patientinnen perfekt. Ich kann es vielleicht noch etwas ausbeuterischer als sie. Aber wir geben uns da nichts.

Funktionieren können und Funktionieren müssen, ist häufig eben keine ganz freie Wahl.

Das Dilemma ist, dass Menschen aus dem ADHS-Spektrum die eigenen Grenzen eben nicht wahrnehmen, aber auch die Fähigkeit haben, immer wieder neu über diese (nicht sichtbare bzw. nicht spürbare) Grenze zu gehen.

Bleiben wir im Bild des Plattenspielers, so heisst das :

Die eigene Geschwindigkeit wird immer weiterer erhöht. Nur langsam. Nicht merklich. Aber das System kommt aus der individuellen Wohlfühl-Geschwindigkeit raus.

Und irgendwann ist es dann nur noch ein Brei von Wahrnehmungen. Eine Überforderung der Reize. Eine Null-Information. Mit der Gefahr, dass der innere Motor versagt. Die Energie auch gar nicht mehr aufrecht erhalten werden kann.

ADHS ist auch eine Tempo-Störung

Ich sehe ja ADHS als eine Regulationsstörung oder Besonderheit. Sieht man es im Bereich der Regulation von Tempo, so hat natürlich jeder Mensch sein individuelles Tempo.
Wir sprechen ja dann auch von sluggish cognitive tempo für Menschen, die eben etwas langsamer verarbeiten und wahrnehmen. Und dann gibt es die Menschen, denen es gar nicht schnell genug gehen kann.

Ist die eigene innere Regulationsdynamik synchron zum Leben, ist das in Ordnung. Gerät sie aus dem Takt, besteht eine ziemlich grosse Chance früher oder später Gast in einer Psychiatrie- oder Psychotherapie-Praxis zu werden. Oder halt bei mir an der schönen Ostsee in der Klinik zu landen.

Meist aber eben mit anderen Diagnosen, mit anderen Erklärungen. Mit anderen eigenen Erklärungen und einem ganzen Bündel von meist nicht zutreffenden Diagnosen von Ärzten und Psychologen.

Das eigene Lebens-Tempo finden und anpassen können

Tja, dafür kann natürlich eine Auszeit in einer Klinik gut sein. Muss natürlich nicht sein.

Methylphenidat ist eine Art "Brille" der Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung.

Sie kann jetzt anders wahrnehmen. Und nimmt wahr, dass sie müde und erschöpft ist. Zwischen den Feiertagen genau die richtige Zeit, um die Geschwindigkeit etwas rauszunehmen.

Aber auch mal das Gefühl der "richtigen" Geschwindkeit zu spüren.

Wo und wann fühlst Du dich genau richtig ?!

Bildnachweis Plattenspieler Pixabay

Sort:  

Gerade in der heutigen Arbeitswelt merkt man es sehr gut, dass man darauf getrimmt wird, immer zu funktionieren. Selbst wenn man schon am Boden liegt, muss es trotzdem weitergehen. Man schleppt sich noch mit letzter Kraft zur Arbeit, um auch brav zu arbeiten. Die meisten Menschen sehen das leider als Normalzustand an. Bis vor einigen Jahren war ich auch noch so eingestellt, bis mein Körper mich gestoppt hat. Als ich dann meine Arbeitszeit reduzierte, merkte ich, dass es wieder aufwärts ging. Für mich kommt ein Vollzeitjob nicht mehr in Frage!

Jeden Mittwoch bin ich da das personifizierte Böse. Als Chefarzt in der Psychosomatik muss ich dann eine sozialmedizinische Leistungsbeurteilung machen. Dort gibt es zig Beispiele, wo es eigentlich um ein Überschreiten der eigenen Funktionsfähigkeit geht. Meist aber durch eigenes Versagen und Verschulden (wobei man ja nicht von Schuld sprechen kann oder sollte). Aber wer sich dann seit 2016 krank schreiben lässt und nichts an der Situation verändert, sondern abwartet, der fällt ganz locker durch die sehr sehr weiten Maschen des Sozialsystems. Krankschreibung oder eine Erwerbsminderungsrente sind nämlich auch nicht die Lösung. Da haben sich die rechtlichen Bedingungen rapide geändert. Und ich finde das sogar gut. Weil die Leute sonst eben trotzdem auf anderer Ebene so weiter machen wie bisher.

Natürlich kann sich nicht jeder leisten, die Arbeitszeit zu reduzieren. Oder Verpflichtungen wie die Pflege von Angehörigen abgeben. Pendelzeiten reduzieren. Als Selbstständiger auch so über die Runden kommen, wenn die Aufträge nicht bezahlt werden. Da gibt es hunderte bis tausende Gründe, warum man aus der Bahn geworfen wird.

Letztlich sind wir aber für unser eigenes Leben verantwortlich. Artgerechte Haltung für Menschen erreicht man nur, wenn man sich selber darum kümmert, dass man in kleinen Schritten wieder lebensfähig wird.

Ich kann absolut nachvollziehen, was du da beschreibst. Ich hab auch jahrelang funktioniert - bis zum totalen nervlichen Zusammenbruch (mittlerweile liegt das schon 15 Jahre zurück). Ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik hat bei mir damals auch zur Entschleunigung geführt. Ich hab gemerkt, dass ich einfach nicht das leisten kann, was andere leisten. In meinem Kopf und meinem Gefühlsleben ist so viel los, dass ich sehr viel Zeit für mich brauche, um alles verarbeiten zu können. Nach einem Treffen mit Freunden brauch ich erst mal zwei Tage lang keine weiteren Dates und Termine.^^ Auch die Lebensbereiche Arbeit, Zeit für mich und Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen wollen bei mir sorgsam ausbalanciert werden.

Ich finde es toll, dass du über solche Themen schreibst, denn damit trägst du dazu bei, dass Menschen ein besseres Verständnis dafür bekommen, wie verschieden wir alle sind - und wie verschieden unsere Bedürfnisse sind. Viel zu oft müssen Menschen, die nicht auf die "normale" Weise funktionieren, sich rechtfertigen und verbrauchen viel Kraft für das Bewahren ihrer Grenzen. Ich werde zum Beispiel oft gefragt, warum ich nicht Vollzeit arbeiten will. Wenn ich dann sage, dass ich nur so funktioniere, ist das für die meisten Menschen kein Argument. Dann kommen so Sätze wie "Aber du bist doch jung, du musst doch was erreichen wollen und Geld für schlechte Zeiten ansammeln." Freunde können sich nicht vorstellen, dass ich zufrieden damit bin, nur 1-2 mal pro Woche Menschen zu treffen - sie sorgen sich und denken, ich sei depressiv, sie sagen "du musst doch unter Menschen, der Mensch ist doch ein soziales Wesen". Als ich mit meinem Freund zusammenzog, bestand ich auf ein eigenes Zimmer für mich, mit eigenem Bett indem ich überwiegend allein schlafen könnte. Sofort bekamen wir zu hören "nach Liebe klingt das nicht gerade, wenn man sich liebt, will man doch ständig zusammensein, da stimmt doch was nicht". Dieser Umstand, dieses Nichtverstehen und Nichtakzeptierenkönnen von Andersartigkeit ist es, was mir das Leben richtig schwer macht - und nicht die Andersartigkeit an sich! Ich selber fühl mich in meiner Haut nämlich ziemlich wohl. :-)

Danke für den ausführlichen Kommentar. Ich sehe es auch so, dass die fehlende "soziale" Einfühlung der "neurotypischen" Umwelt meist das grössere Problem ist. Aber wir leben nun einmal in dieser einen Welt. Eine bessere gibt es noch nicht. Und Krankschreibung / Rente ist sicher keine Lösung. Und wenn der Steem nicht in extreme Höhen steigt, werden wir wohl oder übel von irgendeiner Arbeit in dieser Welt leben müssen. Sich dabei nicht verbiegen lassen bzw. auf seine individuellen Stärken und Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen ist die Kunst.

Ich verstehe auch überhaupt nicht, wie man sich ein 90cm-Bett teilen (wollen) kann. :)
Ich verstehe nicht mal die Menschen, die mit großer Selbstverständlichkeit mit dem eigenen Freund zusammenziehen, ggf. bei dessen Familie einziehen, und bei Not einfach zum nächsten gehen.

90 cm für zwei Menschen? Das ist echt ambitioniert. :-) Naja, aber wer das so mag - dem sei es von Herzen gegönnt!

Richtig verliebte Menschen (was auch immer das heißt ;)) können das wohl ab. Ich könnte Romane schreiben, warum ich es nicht kann. Fängt mit Rücksicht auf den anderen an und hört mit Angst vor soviel Nähe auf ...

Also würdest du auch sagen, wenn man das nicht ab kann, dass es sich dann nicht um Liebe handeln kann? Also ich finde das gar nicht. Liebe hat doch tausend Gesichter. Jeder muss eben nur den zu ihm selbst passenden Ausdruck dieser Liebe finden. :-)

Ich hab das Thema für mich selbst nicht so ernst genommen, daß ich jetzt sagen könnte: ich hab genug geliebt. Zwei Jungs haben die nachfolgende Partnerin geheiratet. An ihnen gelegen haben kann es also nicht. ;)

Kommt mir so bekannt vor...hab ich 5 Jahre versucht und es hat mich fast umgebracht. Am Ende hatte ich eine Herzinsuffizienz.

Es ist blöd, dass wir Menschen irgendwie keinen Drehzahlmesser haben. Bzw. die Signale, die uns der Körper sendet, so schonungslos dann ignorieren. Da hilft menschlicher Verstand wirklich nicht mehr, wenn wir ihn nicht gelernt haben auch zu benutzen.

Die Schilderung, dass bereits 5 mg Methylphenidat für eine nachhaltige Veränderung der Selbstwahrnehmung und Regulationsfähigkeit ausreichen sollen, hat mich sehr überrascht. Oder hat hier nur die Taste mit der "0" geklemmt?

Nein, weniger ist mehr. Ich fange jeweils mit 5 mg unretardiertem Methylphenidat an. Bei einem überraschend grossem Anteil meiner derzeitigen Patienten reicht das schon, so dass ich dann auf 10 mg Medikinet Adult oder Riotalin ADult umsteige. Die "0" ist also nicht verloren gegangen :-)

Hallo @martinwinkler.

Meine Meinung nach,das Problem liegt wo anders.Die mänschen werden alle zu sklaven gemacht und die Leben selbst wird nicht mehr gelebt ,sondern es wird gesorg das man alles was anschaft gespart wird.Und es wird auf eigene Leben und eigene Lebenstil einfach vergessen.Und nicht war genommen.Wir müssen für wenig Geld mehr arbeiten .Wiel konkurenz enorm ist.Leider der Konkurenz bleibt nicht in Deutschland und im Rentealte gehen die wieder nach Heimat zurück.Und wir müssen hier bleiben und hier Miete zahlen und hier leben.Mänschen haben vergessen das die Mänschen sind,das die auch Lebendig sind und Lebewehsend sind.
Mein Style ist eins : - Ich arbeite um zu leben und nicht leben um zu arbeiten.
Ich bin ich und ich lebe!
Ich wünsche allen das die auch eigene Leben leben wollen und werden.
Gesundheit kann mann nicht kaufen! Passt auf euch auf!

Ja, aber es gibt nur dieses eine Leben. Wir können erstmal nur bei uns selber anfangen, eine Veränderung des Tempos und des Verhaltens zu erreichen. Methylphenidat bzw. eine ADHS-Diagnosen kann helfen überhaupt die Selbstwahrnehmung und die Selbststeuerung dafür zu erreichen. Zumindest ist dies bei vielen (inszwischen echt überraschend vielen) meiner Patienten der Fall

Es ist mir bis heute ein Rätsel, was da genau in mir zieht und zerrt und keine Ruhe geben will. Ich weiß wie ich es manipulieren kann, aber nicht was es ist und welchen Nutzen es hat.

Dass meine Taktung nicht mit der übereinstimmt, die man von mir erwartet, kann ich jedenfalls bestätigen. Ich habe aufgegeben mich allzu sehr anzupassen. Stattdessen passe ich die Umstände an mich an. Stichwort: Freiberuflichkeit. Noch wackelt das Standbein, aber ich bin zuversichtlich, dass ich den Dreh bald raushabe.

Mit einer ADHS-Konstitution Freiberuflichkeit zu wagen, ist eben genau das Dilemma. Es fehlt quasi das "Zweitgehirn", das im Falle einer Dekompensation einspringt bzw. vorher auch mal bremst. Allein ist schwierig, gemeinsam bzw. im Team aber noch problematischer. Gerade das Anpassen an die Umstände bzw. das Anpassen der Umstände an mich misslingt ja immer wieder. Ein super Thema für Coaching :-)

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